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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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ZÄH WIE EIN HUND
    Zeeland, Zuid-Beveland. Im Jahr 1920
     
    »Jan, du musst dich ums Geld kümmern!« Ich ging erst ein paar Jahre in die Volksschule, konnte kaum schreiben, musste schon für den Vater die Rechnungen für die Reetdachdeckerarbeiten in Ordnung bringen. Der Vater konnte nicht gut schreiben und Bram und Merien hatten keine Lust dazu. Ich hatte ein Heft und schrieb regelmäßig auf, wie viele Stunden der Vater, Bram und Merien gearbeitet hatten, bei welchem Bauern und wie viele Bündel Schilfrohr sie gebraucht hatten. Anhand dieses Heftes schrieb ich die Rechnungen. Ich musste auch das Geld eintreiben. »Jan«, sagte der Vater dann, »du musst dich ums Geld kümmern.« Und er fügte noch hinzu: »Sie sollen sofort bezahlen.«
    Ich ließ mich von den Bauern nicht wegschicken, ohne dass sie bezahlt hatten. So kam ich zu Lou Neuze in ’s-Heerenhoek, einem dicken Bauern mit einem großen, runden seeländischen Hut auf dem Kopf. Der Vater hatte dort Scheunen mit Stroh gedeckt, und ichhatte geholfen, das Stroh zu tragen. Sechs Strohhaufen hatte der Vater zum Decken gebraucht, zum Gesamtbetrag von achtzehn Gulden. Ich gab dem Bauern die Rechnung, und er betrachtete sie mit einem unglücklichen Ausdruck in den Augen, als läse er seine eigene Todesanzeige. Ohne ein Wort zu sagen, schlich er wie ein geprügelter Hund in eine Zimmerecke, schloss den Tresor auf und holte eine dicke Geldbörse hervor. »Es hat mir nichts gebracht«, sagte er und warf zehn Gulden auf den Tisch. Mehr wollte er nicht geben. Aber ich ließ mich nicht wegschicken, ich war zäh wie ein Hund. Der Vater hatte nicht umsonst gesagt: »Sie sollen bezahlen.«
    »Es hat mir nichts gebracht«, wiederholte der Bauer und schaute mich vernichtend an. Aber ich wartete, bis er endlich die fehlenden acht Gulden auf den Tisch warf. »Sag deinem Vater, dass es zu viel war. Es war nicht recht. Es war zu viel, das kannst du deinem Vater ruhig sagen.«
    Ich ging mit meinen achtzehn Gulden weg und dachte: So ein verdammter Bauer, wir arbeiten wochenlang für ihn und dann will er noch nicht mal bezahlen, so ein verdammter Bauer.
    Er rief noch hinter mir her: »Es war zu viel! Sag deinem Vater, dass es zu viel war. Es war nicht recht.«

DER MUTTER IST ES NICHT GUT
    Ich war schon mit der Volksschule fertig und wollte das Reetdachdecken lernen, musste aber immer zu Hause bleiben, um für die Mutter zu sorgen, denn es war ihr
nicht gut
. Viel lieber wäre ich mit dem Vater, Bram und Merien mitgegangen, um das Handwerk zu erlernen, und bei den Bauern konnte man öfter was erleben.
    Während die Mutter im Alkoven lag, musste ich alle möglichen Arbeiten erledigen. Den Boden mit Besen und Kehrblech fegen, Eimer mit Wasser aus der Scheune holen, Kaffeewasser aufsetzen und Kartoffeln unter dem Alkoven hervorholen.
    Die Mutter blieb bis mittags im Alkoven liegen, manchmal bis weit in den Nachmittag hinein. Ich hatte es ziemlich satt und verkroch mich hinter dem Büfett. Dann fing ich an, ›20   000   Meilen unter dem Meer‹ von Jules Verne zu lesen. Nach einer Weile rief die Mutter: »Jaaan, Jaaan, wo bist du?« Ich verhielt mich ganz still, aber es dauerte nicht lange und sie fing wieder an zurufen: »Jaaan, Jaaan, wo bist du? Warte, ich sag’s deinem Vater!« Dann kam ich wieder zum Vorschein und machte mit den Arbeiten weiter. So ging es immer, Tag um Tag, Monat um Monat. »Morgen«, sagte der Vater, »morgen darfst du mit, Jan, da kannst du Reetdachdecken lernen.« Aber am nächsten Morgen rief die Mutter wieder aus dem Alkoven: »Mir ist nicht gut, ich kann nicht aufstehen, mir ist es gar nicht gut.« Dann war der Vater für einen Augenblick still, aber er brauchte nicht lange nachzudenken. »Jan«, sagte er, »deiner Mutter ist nicht gut, du musst auf deine Mutter aufpassen.«
    Und so lernte ich das Reetdachdecken nie.

DIE PETROLEUMLAMPE
    Es ist Abend, wir sitzen beim Schein der Petroleumlampe. Um den Tisch. Die Mutter liest ein Buch. Der Mutter geht es abends am besten, dann möchte sie nicht ins Bett. Der Vater schaut auf die Pendeluhr und sagt: »Es ist Zeit, wir gehen ins Bett!«
    Wir tun, als würden wir ihn nicht hören, die Mutter liest einfach weiter. Aber der Vater denkt an die Petroleumlampe. Noch einmal sagt er: »Los, es ist Zeit, ins Bett!« Wieder passiert nichts. Er steht auf und bläst, pfffff, die Petroleumlampe aus. Wir sitzen im Dunkeln. »Sonst haben wir morgen früh kein Öl mehr. Wenn die Lampe leer brennt, ist morgen früh nichts
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