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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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wurden?
    Die Briefschreiber bezeugen ihre Anteilnahme an dem »schmerzlichen Verlust Ihres geliebten Sohnes und Bruders« als Folge »des schicksalhaften Unfalls mit Todesfolge«. Ohne Ausnahme weisen sie darauf hin, dass die Hinterbliebenen sich für Trost und Kraft an »Gott den Herrn« wenden sollen.
    »Möge Ihr Sohn und Bruder Ihnen vorangegangen sein zu dem Ort, wo es keine Trauer gibt und wo Er alle Tränen von den Augen wischen wird.«
     
    »Suche Zuflucht bei Ihm allein und beuge dich Seinem väterlichen Willen, denn ihr wisst doch, dass kein Spatz vom Himmel fällt, ohne dass es Sein Wille ist.«
     
    »Warum nahm Gott Ihnen den geliebten Sohn und Bruder? Weil Gott Gott ist.«
     
    »Das Warum werden wir auf dieser Seite des Grabes nie herausfinden. Am Tag aller Tage wird es jedem klar sein.«
     
    Trauer erfüllt mich. Ich schließe die Schachtel, um sie nie mehr zu öffnen. Was soll ich mit dieser Schachtel voller Traurigkeit? Wegwerfen?
    Ich beschließe, dass die Schachtel, wenn meine Zeit gekommen ist, mit in meinen Sarg kommen soll. Ich habe das Gefühl, dass der Kreis dann geschlossen sein wird. Ich wurde nach Onkel Merien benannt. Marinus.

DIE ZEIT
    Der Herbst ist vorüber, aber viele Bäume tragen noch ihre Blätter. Die Natur ist durcheinander, es ist zu warm für die Jahreszeit. Ich habe auch noch keine Frostgänse vorüberfliegen sehen, obwohl es jetzt an der Zeit wäre.
    Vater ist nun seit neun Jahren tot. Ich bin sechzig Jahre alt. Die Zeit vergeht schnell. Vor allem, wenn man zurückblickt, würde Vater sagen. »Früher waren die Tage zu kurz«, schrieb er in sein Tagebuch, »jetzt sind sie zu lang.« Früher war die Zeit für Vater wie ein Fahrzeug, das vorbeifuhr und auf das er aufsprang und sich mitnehmen ließ. Es begierig benutzend, jede Sekunde auskostend. Denn verlorene Zeit kann man nicht mehr zurückgewinnen. Und dann, verflixt, wurde die Zeit für Vater am Ende seines Lebens zu einer Hürde. »Die Zeit vergeht nicht.« O weh, wenn die Tage träge werden. Mann, schweig still.
     
    Onkel Merien ließ die Zeit drehen. Buchstäblich. Jeden Silvesterabend, so erzählte Vater, schnitt Onkel Merien sehr sorgfältig eine Spirale aus einem dünnen Karton. Die Spirale setzte er vorsichtig auf die Spitze einer Stricknadel, die er in eine halbe rohe Kartoffel gesteckt hatte. Dieses Gebilde stellte er an den Rand des Kohlenofens. Durch die Wärme fing die Spirale an, sich zu drehen. Endlos. So sahen Oma, Opa, Onkel Bram, Onkel Merien und Vater, wie sich die letzten Stunden des alten Jahres wegdrehten. Die sich drehende Spirale war ein Sinnbild der Zeit, die immer weitergeht. Manchmal stieß jemand aus Versehen dagegen und das Ganze fiel zu Boden. Dann stand die Zeit für einen Moment still.
     
    War es einen Monat nach dem Tod meines Vaters? Ich war zum Elternhaus gefahren, um dort zu Abend zu essen. Ich saß Mutter gegenüber am Küchentisch. An dem Platz, an dem Vater immer gesessen hatte. Ich schaute hinaus, sah, was Vater sah. Den hohen Himmel, die weite Landschaft. Ich schaute wieder auf meinen Teller, auf meine Hand, die die Gabel hielt. Ich sah Vaters Hand. Meine Hand war zu Vaters Hand geworden. Ich schaute sie an, still vor Erstaunen. Wie lange dauerte es? Fünf Sekunden? Dann sah ich wieder meine eigene Hand. Und aß weiter.
     
    Hoedekenskerke, November 2006

 
    Guido Gezelles Gedicht »Das Schilflied« wurde von
Paul Wimmer ins Deutsche übertragen.
    In: Paul Wimmer (Hg.), ›Flämische Lyrik‹, Wien:
Österreichische Verlagsanstalt, 1970: 15   –   16.

Informationen zum Buch
    Requiem für einen Vater
    Der alte Reetdachdecker erzählt, sein Sohn schreibt es nieder: Schon als Kind hat es Jan Spruit, Jahrgang 1911, auf die Dächer der Bauernhöfe seiner seeländischen Heimat gezogen. Wie sein Vater und seine Brüder erlernte auch er das Handwerk des Reetdachdeckers. Bei Wind und Wetter ist er mit dem Fahrrad unterwegs, übernachtet in zugigen Scheunen, ist mit Leib und Seele bei der Arbeit. Selbst im hohen Alter vermag er sich nicht zur Ruhe zu setzen – seine Berufsehre verbietet ihm, jemandem den Wunsch nach einer Reparatur abzuschlagen.
    Als sein Sohn ihn bittet, aus seinem Leben zu erzählen, offenbart Jan Spruit eine Lebensgeschichte voller Genügsamkeit und beharrlicher Hingabe an sein Handwerk. Zurückhaltend, mit feinem Humor und ohne falsche Nostalgie hat Rinus Spruit das einfache, entbehrungsreiche Dasein der Familie eines Reetdachdeckers aufgezeichnet. Er fügt die
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