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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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Sauerstoff hat sowieso nichts geholfen. Die Ärztin kommt noch einmal vorbei. Und wieder streckt Vater die Hand aus und bedankt sich bei ihr für alles, was sie für ihn getan hat.
    Er bittet um die Flasche zum Urinieren.
    Ich drehe ihn noch einmal von der Seite auf den Rücken.
    »Ich werde sterben«, sagt Vater.
     
    Seine Atmung wird flach. Es ist eigentlich keine Atmung mehr. Sein Puls ist vollkommen unregelmäßig und kaum spürbar.
    Ich sehe, wie er immer weniger wird.
     
    Es ist Mittwoch, der 24.   Dezember 1997.
     
    An diesem Nachmittag stirbt mein Vater.

REGENTROPFEN
    Am Tag der Beerdigung gehe ich morgens durch den Garten meines Elternhauses. Es regnet leicht. Ich schaue zu dem Schilfrohrschuppen hinüber, den Vater vor sechzig Jahren erbaut hat. Er ist ganz aus Schilfrohr, sogar die Wände. Er dient noch immer als Garage und Schuppen. Er hängt gefährlich schief. Weil er schon so alt ist und Vater ihn ohne Fundament gebaut hat.
    Der Schuppen hängt so schief, dass er eigentlich zusammenfallen müsste, aber er weigert sich hartnäckig, zu Boden zu gehen. Er leistet noch immer das, wozu Vater ihn gebaut hat: Wasser und Wind abzuhalten. Das Schilfrohr ist mit der Zeit grauschwarz geworden. Regen tropft vom Dach. Große, klare Wassertropfen hängen an den Schilfstoppeln. Ich hole meine Kamera und schraube das Vorsatzobjektiv auf.
     
    Vater ist im Schlafzimmer aufgebahrt.
    Ich mache ein Foto vom weinenden Schilfrohr.

KATZE
    Die Katze lag unter Vaters Bett und schlief
und schlief einfach weiter,
vor, während und nach Vaters Sterben.
Als wäre nichts passiert.
     
    Das gefällt mir gar nicht an den Katzen.

DAS RANKE RIED
    Der Sarg steht vorn in der Kirche.
    Zum Tod des alten Reetdachdeckers liest der Pfarrer die erste Strophe eines Gedichts von Guido Gezelle. »Das Schilflied«. »Er hätte es für Ihren Vater geschrieben haben können«, sagte der Pfarrer.
    O Rauschen von dem ranken Ried!
    Verstünd ich doch dein klagend Lied!
    Wenn kosend dich der Wind berührt
    und beugend deine Halme rührt,
    (…)
    Wochen später würde ich in der Bücherei das Gedicht von Gezelle noch einmal im Ganzen nachlesen. Die fünfte Strophe gefiel mir am besten. In ihr lässt Gezelle das rauschende Rohr eine Sprache sprechen, die mit der menschlichen Seele zusammenzufließen scheint.
    O nein doch, rankes, rauschend Ried,
    auch meine Seele hört dein Lied.
    (…)
    Ich sehe meinen Vater in seinen hohen Wasserstiefeln in dem Priel voller Schilfrohr stehen, unterhalb der Eisenbahnlinie zwischen Lewedorp und Arnemuiden. Er schneidet Schilf und schichtet es zu dicken Bündeln aufeinander. Hat Vater das Rauschen des ranken Rieds verstanden? Hat es, wie in Gezelles traurigem Lied, seine Seele berührt? Eine göttliche Saite angeschlagen? Ich fürchte, nein. Ich glaube, dass Vater, während er sich bückte, um mit dem Rohrmesser das letzte Schilf zu schneiden, eher mit irdischen Dingen beschäftigt war. Vielleicht mit dem irdischen Schlick. Mit dem Kampf ums Überleben. Denn wehe dem, der alt und arm enden muss, hör bloß auf. Alt und arm, Mann, schweig still.
     
    Auf dem Sarg liegt ein Gesteck aus Schilfrohr.
    Mein Bruder hat das Schilf in einem Graben in der Nähe von Nisse geschnitten, der Florist hat es zu einem schönen Gesteck verarbeitet. Mein Bruder hat noch mehr Schilf geschnitten. Eine große Anzahl Halme wird er mit zum Friedhof nehmen. Jeder Besucher soll einen ins offene Grab werfen. Das hat sich meine Schwester ausgedacht. Es ist das Symbolhafte, sagt sie, das Kraft und Unterstützung gibt. So sagt sie.
     
    Der Pfarrer kündigt das Lied an, das wir singen werden.
Der Herr ist mein Hirte
. Das tut mir gut. Es erinnert mich an früher, als wir Kinder waren. Nach dem Abendessen las Vater immer ein Stück aus der Bibel vor. Sobald unsere Mägen voll und die Töpfe leer waren, nahm er die Bibel und sagte: »Ich lese jetzt was vor.« Um zu kontrollieren, ob wir gut zugehört hatten, ließ er uns manchmal das letzte Wort wiederholen. Das letzte Wort war nie ein Problem, das blieb schon hängen, auch wenn man nicht zugehört hatte. Manchmal wusste Vater nicht gleich, welches Stück aus der Bibel er lesen wollte, und oft sagte ich dann: »Psalm 23, Vater.« Denn Psalm 23,
Der Herr ist mein Hirte
, hatte einen vertrauenerweckenden Text und schöne Sätze. »Er weidet mich auf einer grünen Aue«, wer würde das nicht wollen?
    Der Herr ist mein Hirte,
    mir wird nichts mangeln.
    Er weidet mich auf einer grünen Aue
    und führet
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