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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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Waden fast mit Daumen und Zeigefinger umfassen. Seine Füße, geschwollen wegen des Wassers, sind kalt, auch seine Unterschenkel sind kalt bis zu den Knien. Ich lege eine elektrische Heizdecke an das Fußende seines Betts und hole noch zwei Wärmflaschen. Nun kommen die Handgriffe, die ich auswendig kenne, sowohl nach ihrer Art als auch nach ihrer Reihenfolge. Aber Vater ist jedes Mal schneller als ich. »Das Schüsselchen für meine Zähne, Rinus«, sagt er, als ich das Schüsselchen für sein Gebiss schon in der Hand halte. »Die Salbe für meine Augen.« »Meine Tabletten.«
    »Ich weiß, Vater«, sage ich, »ich weiß es auswendig, du brauchst es mir nicht immer zu sagen.«
    »Ein Glas Wasser«, sagt Vater, »und mein Taschentuch, Rinus.« Das Anschließen der Sauerstoffflasche ist der letzte Handgriff. Die Sauerstoffflasche steht neben seinem Bett. Luft aus der Flasche, Luft, die seinem Atem hinzugefügt wird. Alles, was Odem hat, lobet den Herrn.
    »Der Sauerstoff hilft kein bisschen«, sagt Vater. Er hat recht. Er hilft kein bisschen.
    Vater liegt jetzt auf dem Rücken, halb aufgerichtet, Wasserglas und Taschentuch in Reichweite. Die Nacht kann beginnen. »Ich schaue in der Nacht noch ein paarmal nach dir«, sage ich. »Und wenn etwas ist, kannst du ruhig rufen.«
    »Gute Nacht«, sagt Vater.
    Er ruft mir noch etwas nach.
    »Ja, Vater, ich habe den Hasen aufgehängt.«

IM GEGENLICHT
    Es ist Sonntagmorgen. Der Morgen nach dem Abend mit dem Mann und dem Hasen. Vater sitzt frisch gewaschen und angezogen im Rollstuhl. Ich fahre ihn ins Wohnzimmer. Durch das Fenster scheint die Morgensonne herein und wunderbares Licht fällt auf Vater. Da sitzt er, mit seinem mageren Hals, den kurz geschnittenen Haaren. In einem dicken Wollpullover. Mit Pantoffeln, die Mutter aus einer alten Wolldecke für ihn gemacht hat.
    Ich stehe hinter ihm und werde von dem wunderbaren Bild berührt. Vater im Gegenlicht. Seine zerbrechliche Gestalt von einem Strahlenkranz umgeben, seine Silhouette eingerahmt von Licht. Ich hole meine Kamera und mache ein Foto. Vater im Gegenlicht, von hinten. Als ich die Kamera am Auge habe, entdecke ich durch den Sucher ein Haar, das aus seiner Ohrmuschel wächst. Dieses Haar fängt das Licht ein und fällt auf. Ich hole eine Schere, schneide es weg. Vater merkt esnicht. Ich knipse noch ein Foto. Jetzt ohne das Haar im Ohr.
    Nachher kommen meine Schwestern zum Sonntagskaffee. Vater wartet gut gelaunt. Er wird von dem Hasen erzählen.
    Er ist dazu bereit.

NACHT
    Seit einigen Wochen verbringe ich die Nächte im Haus meiner Eltern. Ich schlafe unterm Dach, in der Kammer, die ich früher, als Kind, bewohnt habe. Vater liegt im Stockwerk unter mir, im Hinterzimmer. In seinem Krankenbett kämpft er mit der Nacht. Schlaftabletten verschlimmern nur seine Schlaflosigkeit, ohne Tabletten geht es besser.
    Genau wie eine Mutter, die jedes Geräusch ihres Kindes hört, bin ich auf Vater ausgerichtet. Er ruft oft. Weil ihm kalt ist. Weil er wissen möchte, wie spät es ist. Weil er nicht schlafen kann. Weil er auf die andere Seite gedreht werden möchte. Allein hält er die Nacht nicht aus. »Ich hab Probleme mit der Zeit«, sagt er. Gegen fünf Uhr morgens ruft er noch einmal. Ich gehe hinunter. »Ist etwas?«, frage ich. »Wenn bloß was wäre«, sagt Vater, »ich langweile mich zu Tode. Aber da du sowieso da bist, dreh mich doch auf die andere Seite.« Es kostet mich wenig Mühe. Mein Vater wiegt nicht mehr viel.

KRANKENHAUS
    Im Krankenhaus stehe ich vor der Tür des Krankenzimmers, hinter der sich, wie ich weiß, mein Vater befindet.
    Gestern am späten Abend wurde er hier aufgenommen. Wider besseres Wissen. »Vielleicht kann der Lungenarzt noch etwas machen«, sagte ich zur Hausärztin, als Vater mit hohem Fieber und Lungenentzündung in seinem Bett im Hinterzimmer lag. Der Tod schaute nachdrücklich durch das Fenster, ich wollte ihn nicht hereinlassen. Seinen Vater dem Tod zu überlassen, das kann man nur ein Mal tun. »Ich denke, dass der Lungenarzt etwas für dich tun kann«, sagte ich zu Vater, als ich neben ihm im Krankenwagen saß. »Wenn es dir im Krankenhaus nicht gefällt, fahren wir gleich wieder nach Hause. Wenn es dir nicht recht ist, sind wir gleich wieder zu Hause.« So sagte ich zu Vater.
     
    Es ist noch früh am Morgen, ich stehe vor der Tür des Krankenzimmers, in dem ich Vater gestern Abend zurückgelassenhabe. Ein Zimmer für ihn allein. Die Tür ist geschlossen und das gefällt mir nicht. Ich
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