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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt
Autoren: Rinus Spruit
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gehe hinein und es zerreißt mich vor Mitleid. Vater sitzt aufrecht im Bett, hält die Schutzgitter fest, ist völlig verwirrt. Er weint. Ein hilfloser Blick in seinen Augen. Ein verängstigtes Knochengerippe. Ihm ist kalt, er fühlt sich kalt an und klagt, wir hätten ihn letzte Nacht ohne Kleidung in den Schuppen gelegt. Mein Mitleid ist so groß, dass ich mich am liebsten neben ihn legen möchte. Aber ich tue es nicht. Ich fülle zwei Wärmflaschen, die ich, als hätte ich es geahnt, von zu Hause mitgebracht habe. Ich hole eine zusätzliche Decke. Lasse seine Rückenstütze etwas herunter, lege die Kissen richtig hin. Rede und höre zu.
    Schön bequem, denke ich, schön bequem. Dieser Mann ist sterbenskrank. Mach die Tür des Krankenzimmers zu und du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern. Schön bequem.
     
    Ich höre mir weiter seine Wut an. Der kalte Boden, der dunkle Schuppen. Dass es eine Schande sei. Aber die Wärme, die seinen Körper durchströmt, mindert seine schlimmste Unruhe.
     
    Dann kommt der Arzt ins Zimmer. Seine Körpersprache signalisiert eine deutliche Botschaft. Schade um meine kostbare Zeit. Dieser Mann hätte nicht aufgenommen werden dürfen. Dieser Mann ist sterbenskrank.
    Er fängt an, Vater zu untersuchen, klopft ihn ab. Vatersitzt aufrecht im Bett, ich stütze ihn. Der Atem, den er ausstößt, ist kalt, ich fühle ihn auf meiner Hand. Hastig trommelt der Arzt auf Vaters ausgezehrtem Gerippe. Vaters Rippen, von zäher Haut überzogen. Aber die Musik gefällt dem Arzt nicht. Er murmelt etwas, wirft noch einen Blick auf Vater und läuft dann zornig aus dem Zimmer, die Schöße seines weißen Kittels flattern um seine langen Beine.
    Ich lege Vater wieder hin, ziehe ihm die Decke bis zum Kinn. »Wir gehen nach Hause«, sage ich. »Zuerst schön warm werden und dann gehen wir nach Hause. Nirgends ist es besser als zu Hause. Schön in deinem eigenen Bett.«
    Ein Internist kommt herein. Er hat Vaters Krankenakte gelesen. Er lässt ihn ruhig schlafen. »Wir können nichts mehr für Ihren Vater tun«, sagt er auf dem Gang zu mir. »Wenn Sie die Möglichkeit haben, ihn zu Hause zu pflegen, ist es besser für ihn, wenn Sie ihn mitnehmen.«
    Wir warten auf den Krankenwagen, der Vater nach Hause bringen wird. Zu seinem warmen Bett. Meine Schwester ist inzwischen auch gekommen, sie hat einen Kassettenrekorder mit Hörbuchkassetten und CDs mitgebracht. Ich lege eine CD ein. Weihnachtsmusik. Schließlich ist bald Weihnachten. Jantje Smit singt
Stille Nacht
.
    Und verdammt, Vater summt leise mit.

STERBEN
    In seinem Krankenbett im Hinterzimmer bringt Vater den letzten Rest seines Lebens zu Ende. Wir sitzen im Wohnzimmer, aber die Schiebetüren sind offen, Vater braucht nur einen Ton von sich zu geben, dann sind wir schon bei ihm.
    Er sagt nicht mehr viel, Vater. Er liegt einfach da.
    Trinkt ab und zu noch etwas, isst praktisch nichts mehr. Alle paar Stunden drehe ich ihn auf den Rücken, auf die eine Seite, auf die andere. Sein Steiß ist rot, aber nicht wund.
    Ziemlich viele Leute kommen vorbei, die Enkelkinder möchten den Opa noch einmal sehen, von ihm Abschied nehmen. Und jedes Mal streckt Vater den Arm aus, diesen spindeldürren Arm mit der großen Hand.
    Er bleibt bis zum Schluss klar. Manchmal isst er noch eine Birne oder einen Bissen von einem sauren Apfel.
     
    Nachts schlafe ich auf einem Klappbett im Wohnzimmer. Die Nacht vor seinem Tod verbringe ich in meiner eigenen Wohnung in Hoedekenskerke. »Du musst auch mal raus«, haben meine Schwestern gesagt. »Heute Nacht schlafen wir im Wohnzimmer. Es kann noch Tage dauern.«
    Am nächsten Morgen rufe ich an und frage, wie es war. »Es hat sich kaum was verändert«, sagt meine Schwester. »Er wollte Suppe haben und hat ein bisschen davon gegessen, aber er hat sich beschwert, dass zu wenig Fleisch drin war. Gestern Abend haben wir ein Glas Portwein getrunken und Vater hat ein halbes Gläschen mitgetrunken. Es hat das Glas sehr vornehm gehalten, du weißt schon, den kleinen Finger abgespreizt.«
    Ganz entspannt fahre ich am Vormittag zu meinem Elternhaus. Meine Schwester wartet schon auf mich. »Gut, dass du da bist«, sagt sie. »Es geht ihm plötzlich viel schlechter. Er hat nach dir gefragt und konnte gar nicht verstehen, dass du nicht da warst.«
    »Du gehst nicht mehr weg, nein?«, sagt Vater, als ich mich zu ihm aufs Bett setze. Nein, ich gehe nicht mehr weg.
    Der Sauerstoffschlauch in seiner Nase macht ihm zu schaffen. Ich entferne ihn. Der
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