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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant
Autoren: Chuck Palahniuk
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stumm daneben.
    Sie sagte, er solle das rote Tagebuch nehmen.
    Als er es ihr geben wollte, sagte sie: »Nein. Schlag die nächste Seite auf.«
    Sie sagte, er solle einen Stift aus dem Handschuhfach nehmen, und zwar schnell, weil sie gleich über einen Fluss fahren würden.
    Die Straße schnitt durch alles hindurch, durch Häuser und Farmen und Bäume, und wenige Augenblicke sp ä ter waren sie auf einer Brücke über einem Fluss, der sich nach beiden Seiten ins Unendliche erstreckte.
    »Mach schnell«, sagte die Mutter. »Zeichne den Fluss.«
    Sie sagte, er solle eine neue Landkarte zeichnen, eine Weltkarte nur für sich selbst, als ob er diesen Fluss, als ob er die ganze Welt gerade erst entdeckt hätte. Seine eigene Welt.
    »Ich möchte nicht, dass du die Welt so akzeptierst, wie sie vorhanden ist«, sagte sie.
    Sie sagte: »Ich möchte, dass du sie erfindest. Ich möchte, dass du die Fähigkeit dazu entwickelst. Die eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Die eigenen Gese t ze. Genau das will ich versuchen, dir beizubringen.«
    Der Junge hatte inzwischen einen Stift gefunden, und sie sagte, er solle den Fluss in das Buch zeichnen. Zeichne den Fluss, zeichne die Berge dahinter. Und gib ihnen Namen, sagte sie. Nicht mit Worten, die er b e reits kenne, nein, er solle neue Wörter erfinden, die nicht schon irgendetwas anderes bedeuteten.
    Er solle eigene Symbole erfinden.
    Der kleine Junge knabberte am Stift, das Buch lag aufgeklappt auf dem Schoß; er dachte nach, und dann fing er an zu zeichnen.
    Und das Blöde ist: Der kleine Junge hat das alles ve r gessen. Erst Jahre später, als die Polizisten diese Landkarte fanden, fiel ihm wieder ein, dass er das g e tan hatte. Dass er das konnte. Dass er die Fähigkeit dazu besaß.
    Und die Mutter besah sich die Karte im Rückspiegel und sagte: »Perfekt.« Sie schaute auf die Uhr, stem m te den Fuß aufs Gaspedal und fuhr noch schneller. Sie sagte: »Und jetzt musst du schreiben. Trag den Fluss in unsere neue Karte ein. Und beeil dich, es gibt noch so viele Dinge, die einen neuen Namen brauchen.«
    Sie sagte: »Das einzige Neuland, das uns noch bleibt, ist nämlich die immaterielle Welt. Ideen, Geschichten, Musik, Kunst.«
    Sie sagte: »Weil nichts so vollkommen ist, wie du es dir vorstellen kannst.«
    Sie sagte: »Weil ich nicht ewig da sein werde, um dich vorwärts zu treiben.«
    Die Wahrheit ist nur: Der Junge wollte nicht für sich verantwortlich sein, für seine Welt. Die Wahrheit ist: Der dumme kleine Scheißer heckte bereits einen Plan aus, im nächsten Restaurant wollte er einen Aufstand machen, seine Mutter sollte verhaftet werden und ein für alle Mal aus seinem Leben verschwinden. Weil er das Abenteurerleben satt hatte, weil er glaubte, sein kostbares, langweiliges, dummes Leben würde einfach ewig so weitergehen.
    Er hatte sich schon entschieden, für Sicherheit, G e borgenheit und Zufriedenheit, und gegen sie.
    Den Wagen mit den Knien lenkend, legte ihm die Mu t ter eine Hand auf die Schulter und s agte: »Was willst du zu Mittag essen?«
    Und als wäre das eine harmlose Antwort, sagte der kleine Junge: »Hotdogs.«

48
    Im nächsten Augenblick werde ich von hinten gepackt. Einer der Polizisten umschlingt mich, presst mir beide Fäuste unter den Rippenkasten und faucht mir ins Ohr: »Atmen! Atmen Sie, verdammt!«
    Er zischt mir ins Ohr: »Alles in Ordnung.«
    Zwei Arme umklammern mich, heben mich von den Füßen, und ein Fremder flüstert: »Das kriegen wir schon hin.«
    Periabdominaler Druck.
    Jemand klopft mir auf den Rücken, so wie ein Arzt einem Neugeborenen einen Klaps gibt, und der Fl a schendeckel fliegt mir aus dem Hals. Mein Darm e x plodiert, und die beiden Gummikugeln und die ganze Scheiße, die sich dahinter aufgestaut hat, alles das schießt mir ins Hosenbein.
    Mein ganzes Privatleben, ausgebreitet vor der Öffen t lichkeit.
    Nichts bleibt mehr im Verborgenen.
    Der Affe und die Kastanien.
    Und dann breche ich zusammen. Ich liege schluchzend auf dem Boden, und jemand sagt, es sei alles wieder gut. Ich hab ’ s überlebt. Sie haben mich gerettet. Ich bin fast gestorben. Sie drücken meinen Kopf an ihre Brust, wiegen mich und sagen: »Ganz locker.«
    Sie halten mir ein Glas Wasser an die Lippen und s a gen: »Ruhig.«
    Sie sagen, es sei alles vorbei.

49
    Um Dennys Burg herum haben sich tausend Leute zusammengerottet, die ich alle nicht kenne, die mich dagegen nie vergessen werden.
    Es ist kurz vor Mitternacht. Stinkend und verwaist, arbeitslos und
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