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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant
Autoren: Chuck Palahniuk
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nach etwas Größ e rem um. Etwas, das so groß ist, dass man es nicht schlucken kann.
    Ich betreibe das Ersticken immerhin schon seit Jahren. Inzwischen sollte das eine meiner leichteren Übungen sein.
    Jemand klopft an und bringt ein Tablett herein. Ein Hamburger auf einem Teller. Eine Serviette. Eine Fl a sche Ketchup. Der Stau in meinem Gedärm, der g e dunsene Bauch, die Schmerzen – ich bin kurz vorm Verhungern, aber essen kann ich nicht.
    Sie fragen mich: »Was steht da alles in dem Tagebuch da?«
    Ich klappe den Hamburger auf. Ich öffne die Ketchupflasche. Wenn ich überleben will, muss ich essen, aber ich bin randvoll mit Scheiße voll gestopft.
    Das ist auf Italienisch, sage ich.
    Sie lesen weiter. Sie fragen mich: »Was bedeuten di e se Zeichnungen, die wie Landkarten aussehen? Was soll das alles?«
    Komisch, aber das hatte ich völlig vergessen. Das sind wirklich Landkarten. Karten, die ich als kleiner Junge, als dummer, einfältiger kleiner Hosenscheißer g e zeichnet habe. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich die ganze Welt neu erfinden könne. Dass ich die Fähigkeit dazu besäße. Dass ich die Welt nicht so a k zeptieren müsse, wie sie sei, so durchorganisiert und bis ins Kleinste geregelt. Ich könne sie nach Belieben umgestalten.
    So verrückt war diese Frau.
    Und ich habe ihr geglaubt.
    Und ich schiebe mir den Deckel der Ketchupflasche in den Mund. Und schlucke.
    Im nächsten Augenblick schlage ich mit den Beinen so heftig aus, dass der Stuhl unter mir wegfliegt. Ich fa h re mit den Händen an die Kehle. Ich bin aufgespru n gen und starre mit verdrehten Augen und weit vorg e recktem Kinn an die Decke.
    Schon sind die Polizisten halb aufgestanden.
    Da ich keine Luft bekomme, schwellen mir die Hal s adern. Mein Gesicht läuft rot an, heiß. Schweiß tritt mir auf die Stirn. Schweiß sickert mir vom Rücken ins Hemd. Mit den Händen halte ich den Hals umkla m mert.
    Weil ich niemanden retten kann, nicht als Arzt, nicht als Sohn. Und weil ich niemanden retten kann, kann ich auch mich selbst nicht retten.
    Weil ich eine Waise bin. Arbeitslos und ungeliebt. Weil ich Bauchschmerzen habe, und weil ich sowieso ste r ben werde, von innen heraus.
    Weil man seinen Abgang planen muss.
    Weil man, wenn man erst einmal ein paar Grenzen überschritten hat, immer nur noch weitere überschre i tet.
    Und es gibt keine Flucht vor der ständigen Flucht. Wir lenken uns ab. Gehen Konfrontationen aus dem Weg. Versäumen den Augenblick. Wichsen. Fernsehen. Alles von sich wegschieben.
    Die Polizisten blicken vom Tagebuch auf, und einer sagt: »Keine Panik. Das beschreibt er doch in dem gelben Notizbuch. Der täuscht das nur vor.«
    Sie stehen auf und beobachten mich.
    Mit den Händen um den Hals bekomme ich keine Luft. Der dumme kleine Junge, der immer wieder blinden Alarm geschlagen hat.
    Wie diese Frau mit dem Hals voller Schokolade. Die Frau, die nicht seine Mutter ist.
    Zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten empfinde ich Frieden. Nicht Glück. Nicht Trauer. Nicht Angst. Nicht Geilheit. Die höheren Regionen meines Gehirns m a chen einfach den Laden dicht. Die Großhirnrinde. Das Kleinhirn. Der Sitz meines Problems.
    Ich vereinfache mich.
    Ich schwebe genau in der Mitte zwischen Glück und Trauer.
    Weil Schwämme niemals einen schlechten Tag haben.

47
    Eines Morgens fuhr der Schulbus vor, der dumme kle i ne Junge stieg ein, seine Pflegemutter winkte ihm nach. Er war der einzige Passagier, und der Bus raste mit hundert Sachen an der Schule vorbei. Am Steuer saß die Mutter.
    Es war das letzte Mal, dass sie ihn zu sich holte.
    Sie saß hinter dem riesigen Steuerrad, sah ihn im Rückspiegel an und sagte: »Du würdest staunen, wie einfach es ist, so einen Bus zu mieten.«
    Sie bog in eine Auffahrt zur Autobahn und sagte: »Bis die Busgesellschaft die Kiste als gestohlen meldet, haben wir schon sechs Stunden Vorsprung.«
    Der Bus rollte auf die Autobahn, draußen flog die Stadt vorbei, und als das Häusermeer sich lichtete, sagte die Mutter, er solle sich neben sie setzen. Sie wühlte ein rotes Tagebuch aus einer Tasche und nahm eine zusammengefaltete Landkarte heraus.
    Mit einer Hand schüttelte die Mutter die Karte über dem Steuer auseinander, mit der anderen kurbelte sie das Fenster herunter. Das Steuer hielt sie mit den Knien. Ohne den Kopf zu bewegen, sah sie immer wieder zwischen Straße und Karte hin und her.
    Dann zerknüllte sie die Karte und warf sie aus dem Fenster.
    Der dumme Junge saß die ganze Zeit
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