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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant
Autoren: Chuck Palahniuk
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werden. Wer gerettet werden wollte, musste erst einmal an den Rand des Todes kommen.
    »Also«, sagte die Mutter, während sie ihm den Mund abwischte, »jetzt habe ich dir das Leben geschenkt.«
    Im nächsten Augenblick erkannte ihn eine der Kelln e rinnen von einem Vermisstenfoto her, worauf die Mu t ter den bösen kleinen Schreihals sofort mit hundert Sachen zum Motel zurückfuhr.
    Auf dem Rückweg hatten sie kurz den Highway verla s sen, um eine Dose mit schwarzer Sprühfarbe zu ka u fen.
    Und nach all dieser Raserei sind sie schließlich in tiefer Nacht am Arsch der Welt gelandet.
    Hinter sich hört der dämliche Knabe jetzt das wilde Klappern der Kugel in der Sprühdose, und die Mutter erzählt vom alten Griechenland, von diesem Mädchen, das sich in einen jungen Mann verliebt hatte.
    »Aber der junge Mann war aus einem anderen Land und musste wieder zurück«, sagt die Mutter.
    Es zischt, und der Junge riecht Sprühfarbe. Der Bu s motor wechselt das Geräusch, rumpelt, läuft schneller und lauter, und der Bus schaukelt leicht auf den Re i fen.
    Und in der letzten Nacht, die das Mädchen und ihr G e liebter zusammen sein durften, erzählt die Mutter, kaufte das Mädchen sich eine Lampe und stellte sie so auf, dass der Schatten des Geliebten an die Wand g e worfen wurde.
    Das Zischen der Sprühdose verstummt und geht dann wieder weiter. Ein kurzes Zischen, dann ein längeres Zischen.
    Und die Mutter erzählt, wie das Mädchen den Umriss des Schattens des Geliebten an die Wand gezeichnet hat, damit es immer sein Bild vor Augen habe, ein Dokument jenes Augenblicks, jener letzten Stunden, die sie gemeinsam verbringen durften.
    Unsere kleine Heulsuse blickt weiter starr in die Scheinwerfer. Seine Augen tränen, und als er sie schließt, sieht er das Licht rot durch die Lider sche i nen, durch sein eigen Fleisch und Blut.
    Und die Mutter erzählt, wie am nächsten Tag der G e liebte des Mädchens verschwunden war, aber sein Schatten, der war noch da.
    Nur für eine Sekunde dreht der Junge sich nach der Mutter um, die den Umriss seines dämlichen Schattens auf den Felsen sprüht; der Junge steht so weit weg, dass sein Schatten einen Kopf größer ist als die Mu t ter. Seine dünnen Ärmchen sehen kräftig aus. Seine Stu m melbeine sind lang und grade. Seine krummen Schu l tern breit und stark.
    Und die Mutter sagt: »Nicht hinsehen. Nicht bewegen, sonst ist die ganze Arbeit umsonst.«
    Und der doofe kleine Quatschkopf dreht sich wieder zu den Scheinwerfern um.
    Die Sprühdose zischt, und die Mutter sagt, vor den Griechen habe es noch gar keine Kunst auf der We l t gegeben. So sei das Bildermalen erfunden worden. Sie erzählt die Geschichte, wie der Vater des Mädchens den Umriss an der Wand benutzt hat, um den jungen Mann in Ton zu modellieren. So sei die Bildhauerei erfunden worden.
    »Kunst wird nie von glücklichen Menschen gemacht«, sagt die Mutter ernst.
    So wurden die ersten Symbole erfunden.
    Das Kind steht zitternd im grellen Licht, versucht sich nicht zu bewegen, und die Mutter arbeitet weiter und erzählt dem riesigen Schatten, wie er eines Tages den Menschen alles beibringen wird, was sie ihn gelehrt hat. Eines Tages wird er Arzt sein und Menschen re t ten. Sie wieder glücklich machen. Oder ihnen noch etwas Besseres schenken als Glück: Frieden.
    Er wird Respekt genießen.
    Eines Tages.
    Und das alles, nachdem der Osterhase sich längst als Lüge entpuppt hat. Genau wie der Weihnachtsmann und die Zahnfee und der heilige Christophorus und die Newtonsche Physik und Niels Bohrs Atommodell. Und dieser dumme, dumme Junge hat seiner Mami noch immer geglaubt.
    Eines Tages, wenn er erwachsen ist, erzählt die Mutter dem Schatten, wird der Junge hierher zurückkommen und sehen, wie er genau in den Umriss hineingewac h sen ist, den sie in dieser Nacht für ihn entworfen hat.
    Die nackten Arme des Jungen zittern vor Kälte.
    Und die Mutter sagte: »Reiß dich zusammen, ve r dammt. Halt still, oder du verpfuschst noch alles.«
    Und der Junge versuchte sich einzubilden, ihm sei nicht kalt, aber die Scheinwerfer gaben trotz all ihrer Helligkeit keine Wärme ab.
    »Ich muss einen sauberen Umriss machen«, sagte die Mutter. »Wenn du zitterst, wird alles ganz undeutlich.«
    Erst Jahre später, erst als dieser dämliche kleine Ve r sager die Abschlussprüfung am College mit Auszeic h nung bestanden und dann mit Ach und Krach einen Medizinstudienplatz an der Universität von Südkalifo r nien bekommen hatte – erst mit
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