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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant
Autoren: Chuck Palahniuk
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vierundzwanzig, im zweiten Jahr seines Medizinstudiums, als seine Mutter die Diagnose erhielt und er zu ihrem Vormund ernannt wurde –, erst da begann es diesem kleinen Trottel zu dämmern, dass stark und reich und klug zu werden nur die erste Hälfte des Lebens darstellt.
    Die Ohren des Jungen schmerzen vor Kälte. Er ist b e nommen und hyperventiliert. Seine kleine Lockvoge l brust ist mit Gänsehaut bespannt. Seine Brustwa r zen haben sich in der Kälte zu harten roten Pickeln z u sammengezogen, und das kleine Ejakulat sagt zu sich selbst: Echt, das habe ich verdient.
    Und die Mutter sagt: »Versuch wenigstens gerade zu stehen.«
    Der Junge strafft die Schultern und malt sich aus, die Scheinwerfer seien ein Erschießungskommando. Er hat eine Lungenentzündung verdient. Er hat Tuberkulose verdient.
    Siehe auch: Unterkühlung.
    Siehe auch: Unterleibstyphus.
    Und die Mutter sagt: »Nach heute Abend werde ich dich nie mehr mit irgendwas belästigen.«
    Der Bus läuft im Leerlauf, aus dem Auspuff quillt ein Tornado blauen Rauchs.
    Und die Mutter sagt: »Also halt still, damit ich dich nicht noch verprügeln muss.«
    Und natürlich hätte der kleine Balg die Prügel verdient. Er hat alles verdient, was ihm geschieht. Er ist ein irregeführter kleiner Tölpel, der wirklich gedacht hat, die Zukunft würde einmal besser sein. Wenn man nur hart genug arbeitete. Wenn man nur genug lernte. Schnell genug rannte. Alles würde gut werden, das Leben bekäme doch noch einen Sinn.
    Windstöße fegen Schnee von den Bäumen, die Flocken stechen ihn in Ohren und Wangen. Schnee schmilzt zwischen seinen Schnürsenkeln.
    »Wirst schon sehen«, sagt die Mutter. »Dafür kann man schon ein bisschen leiden.«
    Das wäre eine Geschichte, die er seinem Sohn erzä h len könnte. Eines Tages.
    Das Mädchen in Griechenland, sagt die Mutter, hat den Geliebten nie wieder gesehen.
    Und das Kind ist dumm genug zu denken, ein Bild, eine Skulptur oder eine Geschichte könnten tatsächlich jemanden ersetzen, den man liebt.
    Und die Mutter sagt: »Du hast noch so viele schöne Dinge vor dir.«
    Nicht zu fassen, aber dieser dämliche, faule, lächerl i che kleine Knabe blinzelt da zitternd in das grelle Licht und den Motorenlärm und glaubt wahrhaftig an eine strahlende Zukunft. Stell dir einen vor, der so dumm aufgewachsen ist, dass er nicht einmal wusste, dass Hoffnung auch nur eine Phase ist, aus der man einmal herauswachsen wird. Der sich einbildete, man könnte etwas, irgendetwas machen, was von Dauer wäre.
    Es kommt einem schon ziemlich dämlich vor, sich überhaupt an diesen Unsinn zu erinnern. Ein Wunder, dass er so lange gelebt hat.
    Also, noch einmal, wenn du das hier lesen willst, spar dir die Mühe.
    Es geht hier nicht um einen tapferen, freundlichen, hingebungsvollen Menschen. Das hier ist keiner, in den du dich verlieben wirst.
    Nur damit du ’ s weißt, du liest hier die vollständige und schonungslose Geschichte eines Süchtigen. Die mei s ten Zwölfstufenprogramme zur Suchtentwöhnung ve r langen in der vierten Stufe nämlich, dass man eine Bestandsaufnahme seines Lebens macht. Jeden la h men, beschissenen Augenblick seines Lebens soll man in ein Notizbuch eintragen. Man soll ein komplettes Inventar seiner Verbrechen aufstellen. Man zeichnet alle seine Sünden auf. Und dann kann man anfangen, das alles zu regeln. Das gilt für Alkoholiker, Droge n abhängige und übermäßige Esser genauso wie für Sexsüchtige.
    Auf diese Weise kann man sich jederzeit die schlimm s ten Augenblicke seines Lebens vor Augen führen.
    Wer die Vergangenheit vergisst, ist nämlich angeblich dazu verdammt, sie zu wiederholen.
    Wenn du das hier liest, geht dich das also genau g e nommen gar nichts an.
    Dieser dumme kleine Junge, diese kalte Nacht, das alles wird bloß noch mehr von dem blöden Scheiß, an den du beim Sex wirst denken können, um die Entl a dung ein bisschen hinauszuzögern. Falls du ein Mann bist.
    Es geht hier um einen schwächlichen kleinen Wide r ling, dessen Mami gesagt hat: »Halt nur noch ein Weilchen durch, stell dich nicht so an, es wird alles gut.«
    Ha.
    Dessen Mami gesagt hat: »Eines Tages wird sich die ganze Mühe auszahlen, versprochen.«
    Und dieser kleine Vollidiot, dieser dumme, dumme kleine Tropf, er stand da die ganze Zeit halb nackt und zitternd im Schnee und glaubte wirklich, dass jemand einem etwas so Unmögliches versprechen konnte.
    Wenn du also meinst, das hier könnte dich retten …
    Wenn du meinst, irgendetwas
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