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Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Titel: Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Autoren: Christoph Marzi
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1
    Das Klingeln des alten Telefons ließ sie aufschrecken. »Verdammt«, murmelte sie verschlafen und tastete unbeholfen nach dem Hörer. »Es ist noch Nacht«, hörte sie sich sagen.
    »Die Sonne geht gerade auf.«
    Sie seufzte. »Ian?«
    »Faye«, sagte er.
    Sie verfluchte sich dafür, nach dem Hörer gegriffen zu haben; nicht umsonst steckte das pechschwarze Telefon mit der seltsam geformten Gabel in einem alten Reisekoffer, der geöffnet neben der Matratze auf dem Boden stand. Sie spürte, wie sich die geringelte Schnur, wenn sie sich zur Seite drehte, um ihr Handgelenk wand.
    »Ich musste an dich denken.«
    Sie öffnete die Augen zu einem flüchtigen Blinzeln, schloss sie sofort wieder. »Ich musste nicht an dich denken«, sagte sie und erinnerte sich daran, dass Ian gern und oft die allerersten Alben der Talking Heads gehört hatte.
    »Erinnerst du dich an den Sonnenaufgang in Key West?«
    War das denn die Möglichkeit? »Hast du eine Ahnung, wie früh es ist?«
    »Sechs Uhr neununddreißig.«
    »Das ist viel zu früh.« Sie betonte jedes einzelne Wort.
    »Die Sonne ist gerade aufgegangen, und ich musste an dich denken. Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber ich hatte dieses intensive Gefühl, dich anrufen zu müssen. Weißt du, wo ich gerade bin?«
    Nein, sie wollte nicht wissen, wo er war.
    Er sagte es ihr trotzdem. »Am Strand. Du weißt schon, oben in Martha’s Vineyard. Das Sommerhaus.«
    Sie seufzte. »Ian, wir sind nicht mehr zusammen.«
    Unbeeindruckt von dieser Feststellung, sagte er: »Hast du dich jemals gefragt, ob es ein Fehler war, dass wir uns getrennt haben?« Er hörte sich wach an. Du liebe Güte. Sie würde nie verstehen, wie sich jemand um diese unmenschliche Uhrzeit bereits wach fühlen – geschweige denn, wach anhören – konnte.
    »Ich«, korrigierte sie ihn, »habe mich von dir getrennt.«
    »Ja«, sagte er, »aber hast du dich jemals gefragt, ob es nicht auch anders hätte kommen können?«
    »Nein, eigentlich nicht.« Sie war ehrlich. Sie hatte sich das wirklich noch nie gefragt, nicht einmal damals.
    »Wenn du nur die Sonne sehen könntest«, sagte er träumerisch.
    Wenn ich doch nur schlafen könnte!, dachte Faye. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und starrte kurz auf den Wecker, der neben dem Koffer stand, zwischen der Matratze und dem Telefon. »Warum geht die Sonne so verdammt früh auf? Es ist Herbst. Geht die Sonne da nicht später auf?«
    »Es ist so wunderschön hier«, hörte sie die Stimme aus dem Hörer. Sie stellte sich das Gesicht dazu vor. Sie hatte Ian Hedges vor etwa drei Jahren nach einem Konzert kennengelernt, und der Rest hatte sich, wie man so schön sagt, ergeben, wie Dinge dieser Art sich ergeben, wenn man nichts tut, um sie zu verhindern. »Es würde dir gefallen«, sagte er. »Wenn ich nur beschreiben könnte, wie das Meer riecht.«
    »Ich bin müde«, versuchte es Faye noch einmal höflich. Sie interessierte sich nicht für das Meer.
    »Wann beginnst du zu arbeiten?«, wollte er wissen.
    »Ist doch egal«, grummelte sie. »Jetzt jedenfalls noch nicht.«
    »Faye.«
    Sie verzog das Gesicht. Ian Hedges hatte ihren Namen schon immer gern ausgesprochen. Öfter als nötig, wie sie fand, obwohl es vermutlich daran lag, dass er es als Dozent gewöhnt war, sein Gegenüber möglichst namentlich anzusprechen.
    »Warum rufst du mich an?«
    Er zögerte, schwieg. »Faye?« Jetzt klang es wie eine Frage.
    Sie sagte nichts.
    »Faye?«
    »Wenn du so weitermachst, lege ich auf.«
    Erneut Stille. Faye bildete sich ein, die Brandung zu hören.
    »Ich mag dich noch immer.« Seine Stimme klang leise, fast brüchig, verletzlich.
    Sie seufzte müde. »Ich mag dich auch, Ian, aber ich bin froh, nicht mehr mit dir zusammen zu sein.«
    »Warum?«
    »Darum!«
    »Das hast du damals auch gesagt.«
    Sie öffnete die Augen, nur einen Spaltbreit, registrierte schleppend langsam, dass die Sonne wirklich aufging. »Wir sind seit zwei Jahren nicht mehr zusammen, und du hast vor einem Jahr geheiratet.«
    Schweigen.
    Nur Brandungsrauschen.
    »Wir sollten das Gespräch jetzt beenden«, schlug Faye vor.
    »Ich kann nicht glauben, dass du so denkst.«
    »Tue ich aber.«
    »Faye?«
    Sie holte tief Luft.
    »Du hast nicht einmal ein Lied über uns geschrieben.«
    »Stimmt.«
    Erneut Stille.
    »Wenn du diesen Sonnenaufgang sehen könntest. Dieses Licht. Oh, wenn du die Farben sehen könntest!«
    Sie seufzte.
    »Man wird nachdenklich, wenn man hier steht.« Sie stellte sich ihn so vor, wie sie
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