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Der Schwur des Maori-Mädchens

Der Schwur des Maori-Mädchens

Titel: Der Schwur des Maori-Mädchens
Autoren: Laura Walden
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Vivi, er hat sicherlich gute Gründe.
      Und trotzdem, die Tage bis zum Sonntag verliefen schleichend, zumal der Anwalt bis zur Feier bleiben wollte und die beiden Männer ständig in Erinnerungen an Lily schwelgten. Manchmal setzte sich Vivian dazu und hörte den alten Herren bei ihren Schwärmereien zu.
      Doch die übrige Zeit verbrachte sie wie in diesem Augenblick an ihrem Aussichtsplatz und blickte versonnen über das Meer. Immer wieder erwachte in ihr das Bedürfnis, ihrem Vater in die Augen zu sehen und ihn wenigstens einmal auch Vater zu nennen. Und dann ärgerte sie sich maßlos, dass sie überhaupt einen Gedanken an ihn verschwendete. Sie setzte ihre ganze Hoffnung in ihr neues Leben auf der Südinsel. So weit weg von allem würde die Sehnsucht nach dem Vater sicherlich verblassen. Zum ersten Mal seit Langem dachte sie an London und ihre Freundin Jane. Ich sollte ihr schreiben und sie nach Neuseeland einladen, ging es Vivian durch den Kopf, und sie sprang eilig auf. Sie wollte es nicht hinausschieben und Jane alles berichten.
      In der Nacht zum Sonntag schlief sie schlecht. Sie wachte immer wieder schweißgebadet auf, doch konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr an ihre Träume erinnern. Schließlich stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und hatte die Idee, diesen Tag mit einem kühlen Bad zu beginnen. Es war schon hell draußen, so-dass sie ohne Angst den Weg zum Wasserfall einschlug. Die Strahlen der Sonne durchbrachen das dichte Grün und trafen auf das Wasser des Sees. Wie bezaubert zog sie sich aus und sprang in die glasklare Flut. Im ersten Augenblick war es eisig kalt, aber dann gewöhnte sich ihr Körper daran. Vivian legte sich auf den Rücken und konnte zwischen den Kronen der Bäume hindurch ein Stück des weiß-blauen Himmels erhaschen. Plötzlich fühlte sie sich ganz leicht und unbeschwert. In dem Augenblick mischte sich in das Geräusch des rauschenden Wasserfalls der kraftvolle Gesang eines Vogels, der immer wieder durch ein Schnarren unterbrochen wurde. Vivian sah hoch zum Wipfel eines Baumes, und da sah sie sein bläulich grünes Gefieder schimmern. Ihr war so, als wolle er ihr etwas sagen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Eine unbändige Freude darüber, dass das Schicksal sie in dieses Land verschlagen hatte, durchfuhr sie. »Danke, Mom, du hast mich nach Hause geschickt«, murmelte sie gerührt, bevor sie ans Ufer schwamm und zurückeilte.
      Matui saß bereits fertig angezogen in einem dunklen Anzug auf der Veranda. Auf dem Schoß lag sein Federmantel.
      »Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, begrüßte er sie.
      Vivian lächelte. »Ich war beim Wasserfall und habe einen Tui gesehen.«
      »Ja, dann zieh dich um. Und wenn du mir einen Gefallen tun willst: Nimm nicht das kurze Kleid.«
      Jetzt lachte Vivian aus voller Kehle. »Du willst mich wohl noch erziehen auf deine alten Tage, lieber Onkel, nicht wahr?«
      »Ja, und ich kann sehr streng sein.« Auch er lachte bei diesen Worten.
      Vivian gab ihm einen Kuss auf die faltige Wange und hüpfte auf einem Bein ins Haus, weil ein Glücksgefühl ihr durch alle Glieder rieselte.
      Zu dritt gingen sie wenig später gemessenen Schrittes hinunter zur Kirche. Die Menschen strömten von allen Seiten herbei. Die Kirche war brechend voll, und Vivian hielt Matuis Hand, dessen Augen während der ganzen Predigt feucht glänzten. Nur die Tatsache, dass sie Fred nirgendwo gesehen hatte, beunruhigte Vivian. Ein paarmal blickte sie sich suchend um, aber vergebens. Ihm wird doch nichts zugestoßen sein, schoss es ihr durch den Kopf, während sich ihr Magen allein bei dem Gedanken zu drehen schien. Nur mit Mühe konnte sie den Rest der Predigt verfolgen und war froh, als der Vikar nun alle Anwesenden bat, sich auf den Vorplatz zu begeben.
      Vor das Denkmal, das mit einem weißen Tuch verhüllt war, hatte man eine Stuhlreihe aufgestellt. Der Anwalt und Matui setzten sich. Vivian zögerte. Unruhig blickte sie in die Menge, aber von Fred war keine Spur zu sehen. Schweren Herzens nahm sie an Matuis Seite Platz und versuchte, sich auf die Worte des Vikars zu konzentrieren. Das gelang ihr schließlich, weil er voller Hochachtung über das Leben und Wirken von Lily Ngata sprach. Plötzlich spürte sie auf der anderen Seite eine Hand, die sich auf ihre legte.
      »Frederik«, raunte sie erfreut, doch als sie sich zu ihm umwenden wollte, erkannte sie, dass es ihr Vater war. Frederik saß neben ihm auf der anderen Seite und
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