Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica
Autoren: Oliver Graute
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
    3. Februar 2093
    Zahl der Opfer des Veitstanz-Virus auf neuem Höchststand
    Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) gab soeben die aktuellen Zahlen der Todesopfer bekannt. Die magische Grenze von 1,5 Mrd. sei erreicht und bereits überschritten, hieß es. Eine tragische Fehleinschätzung der Situation im Anfangsstadium der Pandemie wurde eingeräumt. Das Militär kontrolliert Zufahrtsstraßen sämtlicher Städte im Grünen Gürtel.
    Genf – Wie die Weltgesundheitsbehörde soeben verlauten ließ, ist es nun nicht mehr ausgeschlossen, dass ein entsprechender Impfstoff gegen das HCV-Virus erst mit deutlicher Verzögerung an die Bevölkerung ausgegeben werden kann.
    In den Stadtzentren wurden Notfallquarantänestationen errichtet. Die Bevölkerung wird aufgefordert, aus Sicherheitsgründen in ihren Wohnungen zu bleiben, bis die Behörden sich bei ihnen melden und sie in den Grünen Gürtel überführen. [ap]

    2664
    M it wachsender Faszination beobachtete der Junge das rubinrote Rinnsal, das sich an den Fingerspitzen der Frau zunächst staute und dann in großen Tropfen zu Boden fiel, wo es sich in ein Miasma ineinanderfließender Seen und Flüsse verwandelte. Je mehr Zeit verging, desto zähflüssiger und dunkler wurde der rotbraune Sirup. Die Augen der Frau waren geschlossen, und auf ihren Zügen lag ein entspannter, fast friedlicher Ausdruck. Sie war auf der Bank, dem Jungen gegenüber, in sich zusammengesackt, und ihr langes, kastanienbraunes Haar ummantelte ihre Schultern, wie Herbstlaub einen sanft abfallenden Hügel bedeckt. Der Junge, dessen scharfe Gesichtszüge bereits den Aristokraten erkennen ließen, befand, er habe sich dem Schauspiel nun lange genug gewidmet und begann, sein Gegenüber mit einem dünnen Zweig, den er vom Boden geklaubt hatte, zu malträtieren.
    Mit einem erstickten, spitzen Aufschrei und einigen unkontrolliert hin- und herwischenden Bewegungen, die den Jungen belustigten, schreckte Kemena auf. Sie benötigte einige Augenblicke, um sich zu orientieren, dann bemerkte sie das Missgeschick, das ihr widerfahren war, und der schwarzhaarige Jüngling vor ihr sah voller Genugtuung zu, wie sich der Teint seiner Amme dem Farbton der Fruchtsauce näherte, die sich über ihre rechte Hand, ihren Rock und einen Großteil der Steinfliesen ergossen hatte, nachdem sie den Nachtisch im Schlaf verschüttet hatte.
    Nachdem Kemena endlich richtig wach war, konnte sie erkennen, dass sie nicht nur ziemlich lange geschlafen, sondern ihr Schützling sie auch noch als Spielwiese missbraucht haben musste. Fein säuberlich hatte er mit seinem improvisierten Pinsel die kleinen Pfützen des klebrigen Fruchtsirups an ihrer Hand, dem Tisch und schließlich dem Boden zu kleinen Malereien ausgedehnt, die das Ausmaß der Misere noch verschlimmerten. Naphal konnte beobachten, wie seine Amme denselben Gesichtsausdruck annahm, der ihm stets zeigte, dass es an der Zeit sei, sich aus ihrem Einflussbereich zu entfernen. Wie erwartet, beugte sich Kemena auch schon über ihren kleinen Peiniger und streckte die Arme nach ihm aus: „Oh, du klei...“
    Naphal lachte sein glockenhelles Lachen, sprang auf und wich geschickt dem Griff der klebrigen Hände seiner Amme aus.
    „Na warte, mi pillín pequeño.“
    Die wilde Hetzjagd begann. Naphal wusste, dass ihm eigentlich kein Leid drohte. Seine Mutter hätte nicht zugelassen, dass jemand außer ihr selbst ihn in seine Schranken wies. Dennoch gefiel dem Jungen die Vorstellung, von seinen Häschern verfolgt zu werden. Ein aufregendes Prickeln lief ihm über den Rücken, und seine feinen Nackenhärchen stellten sich auf. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, und er erkannte sehr wohl die tiefe Ungerechtigkeit darin, dass seine Verfolger ihm körperlich haushoch überlegen waren, durchquerte er den ausgedehnten Garten des Anwesens seiner Mutter. Wild Haken schlagend versuchte er dabei, den Vorteil seiner Verfolger auszugleichen, und irgendwie gelang es ihm schließlich unter Zuhilfenahme diverser geheimer Schleichwege, die nur ihm bekannt waren – zumindest glaubte er das –, seinen Vorsprung auszuweiten.
    Doch als er sich nach einiger Zeit siegessicher umdrehte, um nach seinen Verfolgern Ausschau zu halten, folgte das jähe Ende seiner Flucht. Er sah die Mauer aus menschlichen Körpern einfach nicht, die plötzlich vor ihm auftauchte. Ungebremst lief er hinein, stolperte über die Füße der Umstehenden, strauchelte und fiel der Länge nach hin. Auf dem harten, rauen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher