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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica
Autoren: Oliver Graute
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er auch anderer Ansicht war. Er vertrat die Auffassung, diejenigen, die reinen Herzens seien, könne die gebannte Technik nicht verderben. Thariel sei der beste Beweis dafür. Thariel, wie Haakon von Melhus Letzter seiner Art. Der raguelitische Engel, der viele Jahre zuvor den Untergang seines Himmels zu Trondheim überlebt hatte, war mittlerweile wenig mehr als eine Legende. Midael hatte Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen und war sich noch immer nicht klar darüber, ob er das Wissen, dass der Engel an ihn weitergegeben hatte, wirklich sein Eigen nennen wollte. Jahrelang hatte er ein Leben in Naivität geführt. Unwissend ob der zahlreichen Verschwörungen und Gräuel, die nicht nur die Menschen sondern auch seinesgleichen in der Welt gewirkt hatten. Doch nun stand er inmitten der „Heiligen Stadt“, und die Bezeichnung wollte ihm wie bittere Galle schmecken. Was war an dieser Stadt heilig? Oder ewig? Mit Macht und Dreistigkeit hatte sich Midael über die Bürokraten der Stadt hinweggesetzt und war seiner Aufgabe als Hüter der moralischen Werte der Angelitischen Kirche nachgekommen. Wofür? Er war das ungeliebte Kind, der Bastard, den man am liebsten totgeschwiegen hätte. Er hatte die höchsten Stellen innerhalb der Kirche gegen sich aufgebracht und ganz Europa in eine Schlangengrube für sich verwandelt.
    Kurz nachdem der Mordanschlag auf ihn fehlgeschlagen war, hatte sich das Antlitz der Welt dramatisch verändert. Aus irgendeinem Grund waren die Fegefeuer erloschen, und noch ehe die Menschen in Jubel ausbrechen konnten, hatten verheerende Unwetter das Land heimgesucht, die Ernten vernichtet und alles für das Volk nur noch schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war. Nun schlugen sich die Gemeinden damit herum, genügend warme Kleidung für die frierenden Menschen herbeizuschaffen, denn die Temperatur war nach dem Erlöschen der großen Feuer zunächst empfindlich gesunken und hatte sich bis zu diesem Tag noch nicht normalisiert.
    Was Midael dieser Tage aber wirklich Sorge bereitete, waren die Nachrichten, die ihn fast im Stundentakt erreichten. Nachrichten, die ihn eigentlich glücklich machen und positiv in die Zukunft blicken lassen sollten. Nur taten sie es nicht. Im Gegenteil. Mit jeder neuen Botschaft verdüsterte sich sein narbenübersätes Antlitz mehr. Das Oberhaupt der Samaeliten glaubte schon lange nicht mehr an glückliche Fügung und die Lösung von Problemen durch Aussitzen. Das Ausbleiben von Traumsaatangriffen konnte nur einen Grund haben. Etwas Größeres, Unaussprechliches stand bevor. Etwas so Ungeheuerliches, dass es ihrer aller Geschick besiegeln konnte.
    Die Traumsaat, die schrecklichen Kriegerdämonen des Widersachers, des Herrn der Fliegen, waren seit jeher die Geißel der Menschheit. Er und seinesgleichen waren nur zu einem Zweck auf die Erde heruntergekommen. Der Herr hatte sie geschickt, um sich den Alptraumkreaturen entgegenzuwerfen und sie zu vernichten. Wenn ihnen das nicht gelang, wollten sie sie zumindest so weit zurückdrängen, bis sie die Lust daran verloren, über unschuldige Kinder, Bauern und Städter herzufallen. Jahrhundertelang war es den Engeln nicht gelungen. Jetzt mehrten sich die Anzeichen, dass die Traumsaat aus freien Stücken den Rückzug angetreten hatte. Das war zu schön, um wahr zu sein, und die wenigen Jahre außerhalb Korsikas hatten Midael gelehrt, dass nichts ohne Grund geschah. Schon gar keine Wunder. Oder etwas Schönes. Der Samaelit erschrak innerlich. Er sollte solche Gedanken nicht hegen. Das war nicht, was sein Herr Samael ihnen beigebracht hatte. Derlei Empfindungen waren den Menschen vorbehalten. Hass, körperliche Liebe, Zorn, Angst – alles Gefühle, die eines Engels unwürdig waren. Hatte er am Ende mit den Verlust seiner Flügel auch einen Teil seiner Göttlichkeit eingebüßt?
    „Herr?“ Die Stimme der Samaelitin riss ihn aus seinen Gedanken, und er hatte Schwierigkeiten, den Blick vom fernen Horizont zu lösen. Als er sich dennoch umdrehte, konnte er das Gesicht seiner Oberbefehlshaberin kaum noch erkennen, da es unterdessen beinahe Nacht geworden war.
    „Was gibt es, Myriel? Noch mehr gute Neuigkeiten?“ Als Midael den fragenden Blick seines ersten Engels registrierte, ärgerte er sich sofort über seine spöttische Bemerkung. Sie konnte nichts dafür, dass sie ihm dieser Tage alle Nachrichten überbrachte. Noch weniger konnte sie für deren Inhalt. Insgeheim ärgerte er sich vielleicht auch nur über die Tatsache, dass ihn, seit
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