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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica
Autoren: Oliver Graute
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Steinfußboden schürfte er sich Hände, Knie und Ellenbogen auf und blieb für einige Sekunden benommen und verwirrt liegen. Niemand nahm Notiz von ihm. Keiner unternahm den Versuch, ihn aufzuheben und nach ihm zu sehen. Kurz dachte er darüber nach, ob er weinen sollte, doch er hatte noch nie Tränen vergossen und sah auch jetzt keinen ernsthaften Anlass dazu. Vielmehr hatte er bei anderen seines Alters beobachtet, wie eine solche Reaktion sofortige Aufmerksamkeit der Erwachsenen erregte. Das fand er praktisch, doch bislang war es ihm auch ohne derartige Scharaden gelungen, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Diesmal jedoch nicht.
    Nachdem er schließlich aus eigener Kraft aufgestanden war und sich davon überzeugt hatte, dass er keine größeren Blessuren davongetragen hatte, versuchte er, dem Rätsel der unaufmerksamen Erwachsenen auf die Spur zu kommen. Es war gar nicht so einfach, sich durch den Wald aus Beinen der zahlreichen Umstehenden einen Weg nach weiter vorn zu bahnen. Es waren wirklich viele Menschen hier draußen. Seine Mutter würde ziemlich verstimmt sein, so viele vom Personal beim Faulenzen zu erwischen. Er dachte ernsthaft darüber nach, seine Mutter darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihre Dienstboten hier nichtsnutzig herumstanden. Das würde ihnen eine Lehre sein. Immerhin hatten sie seine grandiose Flucht vereitelt, und sein angekratztes Ego schrie nach einem Schuldigen für diese Tat. Doch das Bild, das sich vor seinen Augen ausbreitete, nachdem er sich endlich eine Weg durch den Wald aus Beinen gebahnt hatte, ließ alle Rachegelüste wie eine Seifenblase platzen.
    Der Himmel über der Küste Cordovas hatte sich schwarz gefärbt. Zunächst hielt Naphal das nicht für ungewöhnlich, denn schlechtes Wetter war er gewöhnt. Die Erwachsenen sagten, seit die Fegefeuer ausgegangen waren, sei alles nur noch schlimmer geworden. Naphal hatte keine Ahnung, was das hieß. Er kannte es nur so, wie es war. Er war vier Jahre alt, von tiefen Einblicke in die meteorologischen Gegebenheiten Europas konnte man da wohl nicht reden. Doch als der Junge zu den Gesichtern der Umstehenden aufblickte und das Entsetzen in ihnen erkannte, machte er sich die Mühe, noch einmal in die Schwärze zu blicken, und was er dort sah, trieb auch ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Die dräuenden Gebilde, die sich über der Küstenlinie Cordovas aufgeschichtet hatten, waren in Wirklichkeit gar keine Wolken, sondern die wimmelnden Leiber Tausender und Abertausender schwarz schillernder Kreaturen verschiedenster Größe und Form, die sich grotesk am Himmel wanden.
    Naphal blieb der Mund offen stehen. So etwas hatte er noch nicht gesehen, und wenn er sich die Gesichter der Erwachsenen anschaute, erging es ihnen nicht anders. Die Wesen am Himmel bildeten ein so groteskes Gewimmel, dass der Junge trotz seiner oft attestierten guten Augen keine der Kreaturen klar erkennen konnte, und vielleicht war es gerade dieser Umstand, der ihn im Gegensatz zu einigen anderen Umstehenden vor Schlimmerem, etwa dem Verlust seiner geistigen Gesundheit, bewahrte. Etwas rührte sich in Naphal. Zunächst merkte es der Adelsspross gar nicht, doch dann krampfte sich etwas so schmerzhaft um seine Eingeweide, dass er keuchend in die Knie gehen musste, um Atem zu holen.
    Ein starker Arm stellte den Jungen wieder auf die Beine. „Du brauchst dich nicht zu fürchten, Naphal.“ Die Stimme war rau und ungeschliffen und schmerzte dem Jungen fast in den Ohren, ließ ihn jedoch auch kurzfristig die Übelkeit in seinem Bauch vergessen. Nestor war sein Onkel, zumindest nannte er ihn so, und gehörte zu den Erwachsenen, die ständig um ihn waren, wenn er sich nicht gerade in seinem Zimmer aufhielt. Onkel Nestor war riesig. Seine dunkle Haut unterschied ihn von den meisten anderen seiner Onkel, und die zahlreichen Narben in seinem Gesicht verliehen ihm etwas Abenteuerliches. Immer wenn Naphal das Gefühl hatte, Langeweile drohe ihn zu übermannen, suchte er die Gesellschaft Nestors, der ihm dann von den aufregenden Abenteuern erzählen musste, die er in seinem langen Leben bestanden hatte. Viele dieser Geschichten klangen so haarsträubend, dass der Junge davon ausging, Nestor habe vielleicht das eine oder andere Detail hinzugefügt, um sich vor ihm wichtig zu machen. Naphal durchschaute ihn aber jedes Mal. So auch heute. Dem Riesen stand die Furcht förmlich ins Gesicht geschrieben, und Naphal musste sich zusammenreißen, um sich nicht von dieser
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