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Apocalyptica

Apocalyptica

Titel: Apocalyptica
Autoren: Oliver Graute
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er verkrüppelt war und seine Flügel eingebüßt hatte, keiner der Engel mehr mit der Ehrenbezeichnung Bruder ansprach. Zwar würde keines seiner Geschwister ihm gegenüber offene Abscheu zeigen, und es fiel ihnen sogar leicht, da sie sich darauf zurückziehen konnten, ihn als Oberhaupt ihres Ordens mit der Ehrenbekundung Herr oder hochehrwürdiger Ab anzusprechen, aber dennoch saß der Stachel tief in Midaels Fleisch. Er gehörte in den Augen seiner Geschwister nicht mehr zu ihnen. In diesen Augenblicken dachte er immer wieder an Haakon von Melhus, seinen raguelitischen Mentor, der ihm gesagt hatte, dass es Zeiten gab, in denen man Stellung beziehen und ein kleines Opfer für eine größere Sache bringen musste. Doch Midael sah sich außerstande, seine Grundsätze zu verraten, nur um seiner Eitelkeit und der seines Ordens Vorschub zu leisten. Selbst, wenn es bedeutete, ein Paria zu sein.
    „Ich weiß noch nicht, was wir davon halten sollen, Herr, aber uns liegen Berichte vor, die besagen, man habe Traumsaat gesichtet.“ Midael kannte Myriel noch nicht so gut, wie er Juviel gekannt hatte, ehe dieser vor einem Jahr einem hinterhältigen Anschlag zum Opfer gefallen war, dessen Umstände bis heute nicht geklärt waren, doch gaben ihm seine gottgegebenen Fähigkeiten und seine Kenntnis über Körpersprache einen klaren Eindruck davon, dass Myriel nicht wohl in ihrer Haut war.
    „Nun, und?“, fragte Midael auffordernd.
    „Sie sammelt sich.“
    „Sie sammeln sich?“ Das Oberhaupt der Samaeliten wurde langsam ungeduldig und auf seiner Stirn bildete sich eine steile Zornesfalte, da sein Gegenüber nicht mit der Sprache rausrückte.
    „Ja, sie sammeln sich, Berichten zufolge, über der Südküste Iberias. Eine Schar Späher hat es gerade im Lateran verkündet.“
    Ein seltsames Gefühl der Genugtuung stieg in Midael auf, völlig unangebracht, wie er fand, und doch fühlte er sich auf eine gewisse Weise befriedigt, dass seine Ahnung ihn nicht getrogen hatte. Als er seinem Gegenüber erneut ins Gesicht blickte, konnte er dort noch etwas Unausgesprochenes lesen, und wenn er sich nicht täuschte, dann war da Angst. Ein Gefühl, das man den Engeln seines Ordens bereits vor ihrer ersten Engelstaufe ausgetrieben hatte. Er hatte nicht gedacht, es ausgerechnet bei seinem ersten Engel wiederzufinden. Vielleicht lag es doch nicht am Verlust des göttlichen Funkens, dass er seine Empfindungen nicht mehr im Griff zu haben schien, vielleicht veränderte die Welt um sie herum ihn und seine Geschwister nachhaltig. „Nun, und?“, fragte er noch einmal. Diesmal mit einem leicht lauernden Unterton.
    Myriels Unterkiefer mahlte, so dass die feinen Gesichtszüge des Engels in Aufruhr gerieten. In ihrer Schläfe pochte merklich eine Ader. „Es sind Zehntausende, Bruder.“

    Johannes zu Gemmingen saß mit dem Rücken zum offenen Fenster seines Arbeitszimmers und hatte die Augen geschlossen, um ihnen ein wenig Ruhe zu gönnen. Er war alt, sehr alt. Er hatte die Schöpfung überlistet. Gemeinsam mit seinen beiden Gefährten – oder sollte er besser sagen: Komplizen? – hatte er dem natürlichen Lauf der Dinge ein Schnippchen geschlagen. Aber er war nicht dagegen gefeit zu ermüden. Die letzten Tage hatte er quasi nicht geschlafen. Sein Körper lechzte nach Ruhe, und wenn er nicht so stur gewesen wäre, dann hätte er sich auch eingestanden, dass sein Geist eine Ruhephase genauso sehr benötigte wie sein Körper.
    Die Dinge waren in letzter Zeit nicht gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Nicht einmal annähernd. Das Schlimme war, dass er niemand anderem die Schuld dafür hatte geben können. Er hasste es, wenn er sich schuldig fühlte und hätte es auch sicher niemals öffentlich zugegeben. Er war zu mächtig, um schuldig zu sein. Im Zweifelsfall fand sich immer ein schwarzes Schaf, ein Bauernopfer, das man verschmerzen konnte. Dennoch half ihm dieser Rettungsanker im Augenblick leider gar nichts. Alles lag im Argen. Wenn er sich recht entsann, hatte alles mit der Rückkehr dieser vermaledeiten Samaeliten angefangen. Die heldenmütige Rückkehr der Bewahrer der Werte ... zu Gemmingen stieg bittere Galle die Speiseröhre hinauf. Sie hatten sich nicht an die Spielregeln gehalten, und der heilige Apparat Angelitische Kirche war zu groß, um einer solchen Belastung ohne Beeinträchtigung standzuhalten. Die Dinge hatten sich zu schnell entwickelt, als dass der Konsistorialkardinal hätte lenkend eingreifen können. Ein resignierendes
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