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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian
Autoren: Abbitte
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ERSTER TEIL
Eins
    D as Theaterstück – für das Briony Plakat, Programmzettel und Eintrittskarten entworfen sowie einen umgekippten Wandschirm in eine Abendkasse verwandelt und eine Sammelbüchse mit einer roten Kreppmanschette ausgeschlagen hatte – war von ihr in einem zweitägigen Schaffensrausch geschrieben worden, über dem sie sogar ein Frühstück und auch noch das Mittagessen vergaß. Als alles bereit war, sah sie das fertige Werk ein letztes Mal durch, während sie auf die Ankunft ihrer Kusine und der beiden Vettern aus dem Norden wartete. Bis zur Heimkehr ihres Bruders blieb für die Proben nur noch ein einziger Tag Zeit. Bald schaurig schön, bald schrecklich traurig begann die herzergreifende Geschichte mit einem gereimten Prolog, der verkündete, daß jede Liebe, die nicht auf Vernunft basiert, zum Scheitern verurteilt ist. Die unbesonnene Leidenschaft für einen verruchten fremdländischen Grafen stürzt die Heldin Arabella ins Unglück, denn als sie Hals über Kopf mit ihrem Auserwählten in ein Seebad durchbrennt, erkrankt sie an Cholera. Vom Grafen und ihren Lieben verlassen, lernt sie, in einer Dachkammer ans Bett gefesselt, ihr Leid mit Fassung zu tragen. Doch das Schicksal gewährt ihr eine zweite Chance in Gestalt eines verarmten Arztes – in Wahrheit ein verkleideter Fürst, der sein Leben den Elenden und Bedürftigen weiht. Dank seiner Hilfe genesen, trifft Arabella diesmal eine kluge Wahl und wird reich belohnt: Sie versöhnt sich mit ihrer Familie und feiert mit dem heilkundigen Fürsten an »einem windigen, strahlend schönen Tag im Frühling« Hochzeit.
Mrs. Tallis las die sieben eng beschriebenen Seiten der Heimsuchungen Arabellas vor ihrer Frisierkommode im Schlafzimmer, fest umschlungen von der Dichterin, die nicht von ihrer Seite wich. Briony suchte im Gesicht der Mutter nach jeder noch so kleinen Gefühlsregung, und ihr zuliebe sah Emily Tallis bald erschrocken drein, bald kicherte sie vor Entzücken und schenkte zum Schluß ihrer Tochter ein beifälliges Lächeln und ein weises, zustimmendes Kopfnicken. Sie drückte Briony an sich, zog sie auf den Schoß – ach, wie innig vertraut ihr dieser warme, glatte, kleine Körper war, der sich noch nicht von ihr gelöst hatte, noch nicht ganz –, sagte, daß das Stück »phantastisch« sei, und war auf der Stelle damit einverstanden, wie sie dem Mädchen in seine zierliche Ohrmuschel flüsterte, daß Briony genau dieses Wort auf jenem Plakat zitierte, das auf einer Staffelei neben dem Kartenschalter in der Eingangshalle stehen sollte.
Briony konnte nicht ahnen, daß dies bereits der Moment höchster Erfüllung war. Nie wieder sollte sie ihr Vorhaben derart glücklich machen, alles weitere würde bloß Wunschtraum und Enttäuschung sein. Noch aber kam es vor, daß sie sich in der sommerlichen Dämmerung, kaum war das Licht erloschen, ins köstliche Nest ihres Himmelbettes kuschelte und mit pochendem Herzen ihren leuchtenden, schmachtenden Phantasien nachhing, jede für sich ein kleines Theaterstück – und in allen kam Leon vor. In einem Schauspiel verzerrte er sein gutmütiges, großes Gesicht vor Gram, als Arabella in Einsamkeit und Verzweiflung versank, in einem anderen stand er, Cocktailglas in der Hand, in einem vornehmen Lokal der Stadt und prahlte vor seinen Freunden: Ja, meine jüngere Schwester, die Dichterin Briony Tallis, von der habt ihr bestimmt schon gehört. In einem dritten Phantasiestück aber riß er begeistert die Arme hoch, sobald der letzte Vorhang gefallen war – nur daß es leider keinen Vorhang gab, nein, das ließ sich einfach nicht einrichten. Sie hatte dieses Stück weder für ihre Kusine noch für ihre Vettern geschrieben, es war allein für ihren Bruder bestimmt. Es sollte seine Rückkehr feiern und seine Bewunderung wecken, sollte ihn fortlocken von den unbedacht gewählten Freundinnen hin zu jener einen, der passenden Ehefrau, die ihn bewegen würde, aufs Land zurückzukehren, wo die dann Briony allerliebst darum bitten mochte, ihre Brautjungfer zu sein. Briony gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf beharren, daß die Welt genau so und nicht anders zu sein hat. Während im Zimmer ihrer großen Schwester aufgeschlagene Bücher und lose Kleider wild durcheinanderlagen, der Aschenbecher nicht geleert und das Bett nicht gemacht war, glich Brionys Zimmer einem Tempel, ganz dem sie beherrschenden Dämon geweiht: Der Modellbauernhof auf dem breiten Fenstersims enthielt die üblichen Tiere, doch
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