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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage
Autoren: Keren David
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Kapitel 1
Blut
    Sie kommen früh am Morgen, um mich zu töten. Um sechs Uhr, als der Himmel noch rosa und neblig grau ist und die Möwen hoch über mir kreischen und der Strand noch leer ist.
    Ich bin nicht zu Hause, als sie kommen. Außer mir ist niemand am Strand, aber ich laufe gerne so früh am Morgen. Ich mag das Rauschen der Wellen und den Geruch des Seetangs. Das alles ruft mir immer wieder ins Gedächtnis, dass ich jetzt Jake heiße, und Jake wohnt am Meer.
    Normalerweise ist Jake ein ziemlich trauriger Typ, der arme Kerl hat nicht mal Freunde. Aber hier, jetzt, wenn ich an meiner Schnelligkeit und meiner Ausdauer arbeite, bin ich sehr froh darüber, dass ich überall, egal wo wir sind und wie ich heiße, laufen kann und dass mein Körper immer mein Körper ist.
    Ein bisschen vergesse ich dann wieder, dass ich eigentlich Jake sein soll: Ich laufe auch ein Stück zurück in meine letzte Identität – zu Joe, dem coolen, bei allen beliebten Joe. Joe fehlt mir. Es tut gut, dass ich beim Laufen er sein kann. Jedenfalls will ich nie wieder Ty sein. Soheiße ich eigentlich, der bin ich eigentlich – aber ich träume immer noch davon, Joe zu sein.
    Joe fühlt sich nie einsam, wenn er allein am Strand rennt. Nur Jake fühlt sich mies, wenn niemand in der Schule mit ihm redet.
    Jake denkt nie an Claire – meine Claire, meine allerliebste Claire –, weil ihr Name ihn in ein dunkles Loch der Verzweiflung wirft. Aber wenn ich Joe bin, stelle ich mir vor, ich würde zu ihr laufen, und erlaube mir ein kleines bisschen Freude … Herzklopfen … Hoffnung.
    Also ist es ein guter Morgen. Selbst als ich langsam wieder in die Nähe unserer Wohnung komme und mich daran gewöhnen muss, Jake zu sein, strahlt immer noch ein bisschen Joe in mir nach. Ein bisschen Joe-Glamour für den gefakten Jake. Mir ist heiß und ich schwitze, und viel mehr habe ich als Jake nicht zu erwarten; aber als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich überall Polizeiautos und Krankenwagen. Ein paar Schaulustige stehen neugierig herum, und die Polizei bringt ein Absperrband an, damit niemand zu nahe herankommt.
    »Gehen Sie zurück! Zurück!«, ruft ein Polizist, aber ich dränge mich trotzdem bis zur Absperrung nach vorne.
    Dann sehe ich es. Eine dunkle Blutpfütze direkt vor unserer Haustür. Die Welt bleibt einen Moment stehen, mein Herzschlag setzt aus. Ich wanke hin und her, alles wird weißer und kleiner, und ich komme mir vor wie eine Möwe, die über die Szene fliegt, nach unten schaut und dann zum Himmel emporkreischt.
    Ich weiß nicht, was ich machen soll. Vielleicht einfachwegrennen, damit ich nie erfahre, was passiert ist? Dann nimmt mich jemand fest in den Arm, es ist Gran, oh Gott, es ist Gran, und sie zieht mich zu einem der Polizeiautos. Hinten im Wagen sitzt meine Mum, ganz zusammengekauert, und gibt merkwürdige Geräusche von sich – eine Mischung aus Keuchen, Heulen und Wimmern. Es erinnert mich daran, wie Jamie Robins in der dritten Klasse einen Asthmaanfall hatte; das war damals ganz schön gruselig und jetzt ist es schrecklich.
    Gran setzt sich neben sie. Mums Gesicht ist ganz weiß, sogar ihre Lippen. Sie sieht einfach durch mich hindurch. Dann gibt ihr Gran eine heftige Ohrfeige und Mum hört mit diesen grässlichen Geräuschen auf und schlingt die Arme um sie. Sie haben beide noch ihre Morgenmäntel an. Auf Grans flauschigen rosa Hausschuhen ist Blut.
    Gran wiegt sie langsam hin und her und sagt: »Ist ja gut, mein Schatz, bleib stark, Nicki, dann wird alles gut.«
    »Was … wer?«, frage ich, aber ich weiß es bereits. Ich bin schon dabei, die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
    Sie müssen geklingelt haben. Meistens schlurft meine Mum die Treppe runter zur Haustür. Hätte sie das heute auch getan, hätten sie sie bestimmt gepackt, nach oben geschleppt und alles nach mir abgesucht. Und wenn sie mich nicht gefunden hätten? Dann hätten sie sie wohl geknebelt, damit sie keinen Lärm macht, und gewartet, bis ich zurückkomme. Und dann hätten sie uns beide erschossen, denke ich mir.
    Aber Mum hat die Tür nicht aufgemacht. Sie sitzthier im Auto, schluchzt und schnieft, zusammengekrümmt, als hätte sie Schmerzen. Also ist wahrscheinlich Alistair runtergegangen. Alistair, der Typ, mit dem sie sich ein paarmal getroffen hat, bevor wir hierher ziehen mussten.
    Alistair, der die Nacht in ihrem Bett verbracht hat.
    Alistair, der gestern Abend ganz unerwartet aufgetaucht war. Niemand hatte es für nötig gehalten, mir
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