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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition)
Autoren: Lisa Ballantyne
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die Stokes’ heraus. Madeline war erholt, aber schwach; Paul hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. Daniel und den Staatsanwalt ließen die Journalisten stehen, und alle stürzten sich auf die Eltern des Opfers.
    Daniel sah sich nach Irene um, konnte sie aber nicht entdecken. Er machte sich auf den Weg zur U-Bahn, als er sie vor sich sah. Sie wirkte niedergeschlagen, den Blick zu Boden gerichtet.
    »Ich dachte, du sagtest, du wolltest auf mich warten«, rief er und rannte, um sie einzuholen.
    »Gott, da bist du ja. Ich wusste nicht, wo du geblieben warst.« Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    »Geht’s dir gut?«, fragte Daniel, während er ihr in die müden Augen sah.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie mit einem seltsamen Lächeln. »Mir ist komisch. Wahrscheinlich bloß erschöpft.«
    »Du hast gewonnen«, sagte er.
    »Wir haben gewonnen«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf das Revers. Er genoss das Gewicht ihrer Hand auf seiner Brust. Eine Sekunde dachte er daran, sie an sich zu ziehen und zu küssen.
    Er atmete ein, bereit, ihr zu erzählen, was Sebastian ihm gebeichtet hatte, doch dann hielt er inne. Sie war der einzige Mensch, dem er es erzählen wollte, der einzige Mensch, der verstehen würde. Er würde es ihr erzählen, aber nicht jetzt; für einen Tag hatten sie beide genug durchgestanden.
    »Wie bist du zurechtgekommen?«, fragte sie und machte eine Kopfbewegung zu der Menge der Journalisten in der Ferne.
    »Gut. Du weißt ja, wie es ist – sie haben sich schon auf die Stokes’ gestürzt.«
    Irene sah weg. »Mir bricht das Herz für sie. Ihnen fehlt absolut jeder Trost. Ihr Sohn ist tot, und niemandem wird die Schuld daran gegeben.«
    Daniel erschauerte in der feuchten Kälte, als er die Erinnerung an Sebastians geflüsterte Worte abzuschütteln versuchte. Er steckte die Hände in die Taschen und blickte hinauf in den dunklen Himmel.
    »Aber wir sind ein gutes Team«, sagte sie.
    Er sah ihr in die Augen und nickte. Sie legte ihm wieder eine Hand aufs Revers.
    Plötzlich spürte er, wie sie sich ihm entgegenneigte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste seine Lippen.
    Ihre Lippen waren kalt. Er fühlte die ersten Regentropfen auf seinem Kopf. Er war zu überrascht, um den Kuss zu erwidern, aber er blieb dicht bei ihr stehen, bis sie zurückwich.
    »Tut mir leid«, sagte sie, drehte sich von ihm weg, Röte auf den Wangen, und ließ ihr Haar über ihre Augen fallen.
    Er fuhr ihr mit der Hand über den Hals und mit dem Daumen über ihr Kinn. Er wusste nicht, was jetzt geschehen würde, aber es erschien ihm voller Bedeutung.

EPILOG
    Der Regen hatte gerade aufgehört, als Daniel nach Brampton hineinfuhr. Er fühlte, wie ihn eine eigenartige Ruhe überkam. Bis er Cumbria erreichte, war er mit den Gedanken bei dem Prozess gewesen.
    Er war sich nicht sicher, ob er Sebastian jemals für unschuldig gehalten hatte. Über den Fall hinaus hatte ihn das nie interessiert. Aber jetzt, da der kleine Junge frei war und seine Schuld eingestanden hatte, fühlte sich Daniel verantwortlich. Er dachte wieder an Paul und Madeline Stokes, die mit ihrem Kummer alleingelassen waren ohne den Rückhalt eines Schuldspruchs. Sebastian brauchte Hilfe, aber Daniels Rolle war jetzt zu Ende gespielt. Er konnte nur hoffen, dass die Teilnehmer der Fallkonferenz und die Fachleute, die sich bisher mit Sebastian befasst hatten, erkennen würden, was er brauchte.
    Daniel wusste, wenn das Urteil anders ausgefallen wäre, würde er sich nicht besser fühlen. Seine Erfahrungen mit Jugendarrestanstalten, Erziehungsheimen und Gefängnissen hatten ihn gelehrt, dass, egal, wie kaputt Jugendliche waren und wie schrecklich ihre Probleme, sie an den Orten, in die man sie zur Strafe und Besserung schickte, nur noch schlechter gemacht wurden.
    Jetzt, da er in Brampton war, schien Sebastian weit weg zu sein: Er war nur noch quälend leise wie ein Ton, den zu hören er sich anstrengen musste. Es war inzwischen fast Winter, und die Bäume in Brampton hatten ihr Laub verloren. Die kahlen Bäume hoben sich scharf umrissen vom Himmel ab wie Lungen. Er hörte den Regen gegen die Reifen seines Wagens platschen, als er in das Dorf hineinfuhr. Er holte tief Atem, hielt ihn an und überlegte, welch außergewöhnliche Veränderungen möglich gewesen wären, wenn Sebastian eine Minnie gekannt hätte.
    Er versuchte, die Gedanken an den Jungen beiseitezuschieben. Er erinnerte sich an den Geschmack von Irenes Lippen am Abend zuvor und
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