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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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Radieschen?
    Kartoffeln wuchsen dort nicht.
    Angeklagter, setzen Sie sich.
    Der Richter sieht Heiner an. Herr Zeuge, was sagen Sie dazu?
    Der Angeklagte hat Recht, sagt Heiner und steht auf, ich kenne ihn, er war kein Menschenhasser. Er hatte eine ruhige, nette Art, die Kinder zur Injektion zu begleiten. Er war ein anständiger SDG.
    Ein was?
    Ein anständiger Sanitätsdienstgrad. Ich habe ihn nie schreien hören, er hat nie jemanden geschlagen. Einmal sagte er: Wie schön es aussieht, wenn die Kinder umsinken wie geschnittener Halm.
    Wie kam er auf diesen Vergleich, Herr Zeuge?
    Weil die Kinder dünn waren. Wie Halme eben.
    Herr Zeuge, stehen Sie auf. Woher haben Sie die schöne, blaue Wolldecke?
    Sie kam mit den Zügen aus Holland. Es waren viele Decken, ich habe nur eine genommen. Ich fror, sie hat mir das Leben gerettet.
    Sind diese Decken alleine gereist?
    Ja, Herr Richter, alleine.
    Wann kamen die Decken?
    September ’44, glaube ich.
    Ist hellblau Ihre Lieblingsfarbe?
    Nein.
    Welche denn?
    Ich habe keine Lieblingsfarbe.
    Ich bitte Sie, mir die Decke auszuhändigen.
    Niemals!
    Der Angeklagte dreht sich um. Er sagt: Lass dich nicht ärgern, Kumpel, rauch eine mit mir.
    Es ist Lenas Stimme, die vom Gerichtsflur in den Saal dringt. Sie ruft seinen Namen und dann, immer wieder: Heiner, lass los! Schatz, lass die Bettdecke los!
    Später hätte Heiner schwören können, dass er beim Aufwachen eine Zigarette in der Hand hielt, die ihm Lena abnahm und dann erst in die Küche ging, um Kaffee zu holen.

Regnen soll es. Heiner wünscht sich feinen, fiesen Dauerregen, der durch die Ritzen der Häuser kriecht, den der Wind durch Jacken und Pullover in die Poren treibt. Er wünscht sich Schlechte-Laune-Wetter. Wie soll er seine Predigt an einem Tag halten, an dem die Sonne scheint und aus einem unverschämt blauen Himmel dicke, weiße Flocken fallen. Sie legen sich auf die Äste der Bäume, bedecken Felder und Straßen, die Köpfe der Vögel und die Rücken der Schafe. Es ist der 24. Dezember.
    Heiner und Lena sitzen am Fenster und frühstücken. Der dunkle Schatten hinter dem Schneegestöber ist nur noch die Erinnerung an eine Kirche. Lena füllt Heiners Becher mit Kaffee auf. Schön, sagt sie, ein Tag wie im Märchen.
    Auch damals schwebten die Flocken vom Himmel. Sie schmolzen auf der Haut der nackten Männer, die geduldig auf die Abfahrt des Lastwagens warteten. Vater, Vater, nimm mich mit. Über allem wölbte sich ein unverschämt blauer Himmel.
    Heiner steht auf. Ich hole den Mantel für Oke.
    Schnell steigt er den Weg zur Warft hinauf, betritt, ohne anzuklopfen, die Werkstatt. Der alte Schneider sitzt mit einer Zigarette im Mundwinkel an der Nähmaschine, um ihn herum scharren die Hühner am Boden. Der Schneider hält Heiner die Zigarettenschachtel hin, der schüttelt den Kopf, danke, nicht morgens. Der Schneider steht auf, nimmt das Cape vom Bügel und breitet es vor Heiner auf dem Tisch aus.
    Zufrieden?
    Dunkelblauer Samt. Aus Italien. Heiner hebt das Cape hoch, es fällt wie ein Glockenrock, er stellt sich Okes Gesicht in der Kapuze vor. Gut gemacht, sagt er, was kriegst du von mir?
    Nichts.
    Der Stoff ist teuer, sagt Heiner.
    Der Schneider grinst. Ich kriege genau nichts.
    Heiner starrt dem alten Mann ins Gesicht, er überlegt die Möglichkeiten, die Arbeit trotzdem zu bezahlen. Er kann ihm zweihundert Mark auf den Tisch legen, die ihm der Schneider, wenn er stur ist, am nächsten Tag in den Briefkasten wirft. Ein albernes Spiel. Er kann das Geld überweisen – auch keine Garantie, es nicht zurückzubekommen. Die flüchtige Idee, ihm ein Geschenk für die Werkstatt zu machen, teure Scheren, buntes Garn, verwirft er sofort.
    Ich will das Cape nicht umsonst.
    Es ist nicht für dich, sagt der Schneider. Es ist für das blöde Kind.
    Heiner reißt das Cape vom Tisch und geht schnell nach Hause. Er dreht sich nicht um, er weiß, dass der alte Mann ihm nachguckt, bis er hinter der Wand aus Schnee zum Schatten wird und dann unsichtbar. Der Schneider bleibt am Fenster stehen, bläst den Rauch der Zigarette gegen die Scheibe und versteht nicht, warum dieser Mann mit einem verrückten Kind spazieren geht, ihm ein teures Geschenk macht und sich nicht freut, wenn er es umsonst haben kann.
    Heiner wirft die Tür hinter sich zu und trinkt einen Wodka gegen die Übelkeit. Der Schneider hat sich an das Cape geklebt und Heiner weiß nicht, wie er ihn von dort entfernen soll. Er hasst Ohnmacht. Er flucht. Da bist du vorsichtig wie
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