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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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kein Besuch. Auf der Fußmatte liegt ein Päckchen. Es ist mit einer Kordel verschnürt und über und über mit großen Briefmarken beklebt, die keine Zacken haben.

Margarete Mitscherlich
    NACHWORT
    In diesem Buch gibt es die Beschreibung einer langen Fahrt von Deutschland nach Auschwitz. Bei der Ankunft ist Heiner, Monika Helds Protagonist, bleich und übermüdet. Aber anstatt sich im Hotel der Gedenkstätte schlafen zu legen, zieht es ihn, plötzlich wach und vital, sofort ins Lager – zu dem Block, in dem er als Totenschreiber überlebt hat. Es ist die Beschreibung einer Ankunft. Da kommt einer nach Hause. Das ist ja Wahnsinn, dachte ich, das kann doch nicht sein: eine Heimkehr an den Ort des größten Leids. Und dann las ich nach dem Tod von Jorge Semprún gleich in mehreren Nachrufen, dass auch er von Buchenwald als einer Art zweiter Heimat sprach. Monika Held nimmt mich mit an einen Ort, den ich ohne sie nicht betreten würde. Beschützt von ihr wage ich diese Reise.
    In diesem Buch geht es nicht um das natürliche Sein und Werden, hier geht es um Vernichtung. Getötet zu werden ist der Zweck, warum der Protagonist KZ-Insasse ist. Er weiß das. Er hat es im Schutzhaftbefehl stehen: RU Rückkehr unerwünscht. Er reist mit seinem Todesurteil dem Tod entgegen. Und dann kommt er – wider Erwarten – aus dieser Todesmaschine heraus, in der zu neunundneunzig Prozent die Wahrscheinlichkeit bestand, in ihr umzukommen. Er ist nicht gestorben. Er hat über den Tod triumphiert.
    Ich glaube, dass sich Menschen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, unbewusst, nicht bewusst, ein wenig wie Unsterbliche fühlen. Sie haben den Tod besiegt. Und dann kommen sie zurück an den Ort, der eine Hölle war und es ist dort friedlich. Die Bäume sind groß geworden, die Vögel singen, Touristen halten ihr Gesicht in die Sonne. Aus der Mordmaschine, der Inkarnation des Massenmordes, wurde ein Museum. Auch eine Frage: Wie erträgt man diesen Frieden?
    Heiner, der Protagonist, geht besonders gerne nachts durch das Lager und sagt zu Lena, seiner Frau, die sich vor der Dunkelheit, den Schatten, den Geschichten und den Geräuschen fürchtet: Du musst keine Angst haben, hier ist noch nie jemand ermordet worden. Was für ein aberwitziger Satz! Den kann nur jemand sagen, der sich – unbewusst natürlich – für unsterblich hält.
    In diesem Buch wird nicht nur über Gräuel geredet, es wird besonders gern gespielt. Das Stück heißt ›Auschwitz‹. Und wenn Lena befremdet zuschaut, wie ihr Mann und viele seiner Freunde in Szenen nachspielen, was sie erlebt haben, dann gehört auch das zum Thema Überleben. Schau, heißt das Stück, wir haben den Tod besiegt, jetzt machen wir daraus Theater.
    Wenn Heiner sagt: Ich muss hier immer wieder hinfahren, dann heißt das doch, dass er jetzt, wo er überlebt hat, der Herr des Lagers ist. Hier kann er etwas dafür tun, dass diejenigen nie vergessen werden, die ermordet worden sind, die den ihnen bestimmten Tod nicht überlebt haben. Hier kann er seine Schuldgefühle abbauen, er hat seinen Sinn als Überlebender gefunden. Er ist auch nicht mehr der Schwache, der sich alles gefallen lassen muss. Ich habe wirklich gestaunt, als ich hörte, dass auch für Jorge Semprún das Lager zu einer zweiten Heimat geworden war.
    Die Geschichte Heiners, des kommunistischen jungen Mannes aus Wien, der sich in Auschwitz dem Widerstand anschließt, lässt sich nicht vergleichen mit den Lebensgeschichten meiner jüdischen Patienten, die Vater, Mutter und Geschwister verloren hatten und nicht aufhörten, sich mit den Fragen zu quälen, was sie hätten tun können, um den Vater, die Mutter, die Geschwister zu retten. Bei meinen jüdischen Patienten ging es um Familiengefühle, um Schuldgefühle. Diese Menschen wollten, im Gegensatz zu dem geradezu vom Redezwang getriebenen Protagonisten dieses Buches, möglichst wenig darüber reden, was sie gesehen und erlebt hatten. Aber Reden ist eine Möglichkeit des Überlebens, vielleicht die einzige, eine Garantie ist es nicht. Auch Jean Améry hat geredet, auch Primo Levi – beide konnten die Bürde der Erinnerungen nur eine Zeitlang tragen.
    Ob Jude, Christ oder Kommunist – ein Opfer ist immer traumatisiert, auch der Protagonist, der Aufmerksamkeit einfordert und sogar so weit geht, die Bilder und Erinnerungen, mit denen er lebt, in den Kopf seiner Frau pflanzen zu wollen. Aber das ist natürlich ein Unding. Es ist infantil, zu glauben, man könne das KZ nachholen wie
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