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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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Kaffee?
    Nein.
    Schokolade für den Jungen?
    Danke, er isst keine Schokolade.
    Was willst du hier?
    Heiner ist auf die direkte Frage nicht gefasst. Er sieht sich um, spürt Okes Hand und sagt: Kannst du dem Kind einen Wintermantel nähen? Einen mit Kapuze?
    Hast du Stoff?
    Nein.
    Dann komm.
    Der Schneider geht zu einer Kommode, zieht eine Reihe breiter Schubladen auf und zeigt auf die Bestände. Es gibt grobe, braune Stoffe aus Leinen, silbergraues Flanell, flaschengrüne Baumwolle und einen größeren Stoffrest, nachtblau und weich wie das Fell eines Kaninchens.
    Fass an, Oke, sagt Heiner, soll das dein Mantel werden?
    Er führt die Hand des Jungen über den Stoff, Oke lässt weder Zustimmung noch Ablehnung erkennen.
    Italienischer Samt, sagt der Schneider. Beste Qualität. Nicht billig.
    Macht nichts. Ich möchte Oke einen weichen Mantel aus blauem Samt zu Weihnachten schenken.
    Der Junge lässt sich geduldig ausmessen. Die Arme, die Schultern, den kurzen Oberkörper. Wie lang soll der Mantel werden, fragt der Schneider, der Bub ist mickrig, nicht mal einsfuffzig.
    Oke hat den Kopf in die Richtung gedreht, aus der das Gackern kommt. Geh zu den Hühnern, sagt Heiner und zum Schneider: Der Junge ist rund, kannst du ihm ein Cape machen, ein Cape mit Kapuze?
    Der Schneider nickt. Oke stellt sich zu den Hühnern. Er macht ihr leises Gackern nach, versucht aber nicht, sie zu streicheln. Er hebt eine weiße Feder auf und steckt sie zwischen die Maschen seines Pullovers.
    Was ziehst du mit dem blöden Kind durch die Gegend, fragt der Schneider.
    Ich mag den Jungen. Er wird nie jemandem Leid zufügen.
    Der Schneider legt Oke in jede Hand ein braunes Ei. Bedächtig trägt der Junge sie zur Werkstatttür. Dort stutzt er. Er weiß nicht, wie er Heiners Hand ergreifen soll.
    Ich mach dir die Tür auf, sagt Heiner, du kannst die Eier mit nach Hause nehmen.
    Oke betrachtet seine Hände. Dann lässt er das Ei, das ihm der Schneider in die rechte Hand gelegt hatte, fallen, das andere bringt er den Hühnern zurück.
    Der Schneider grinst. Verrücktes Kind. Zu Heiner sagt er: Bleib noch, rauch eine mit mir.

Sechs Lichtquellen machen aus dem Schlafzimmer einen Raum, in dem es aussieht, als würde die Abendsonne auf den Boden scheinen. Das sanfte Licht nimmt Heiner die Angst vor der Nacht und hilft ihm, sich nach schlechten Träumen zu beruhigen. Er ist seit einem halben Jahrhundert kein Häftling mehr, aber viele Jahre schützen nicht vor bösen Bildern. Auch Rilke nicht, auch nicht das Gute-Nacht-Gebet für Lena: Ich möchte jemanden einsingen, bei jemandem sitzen und sein. Ich möchte dich wiegen und kleinsingen, und begleiten schlafaus und schlafein. Er schließt die Augen, sinkt in den Schlaf und kann nicht verhindern, dass er sich in den Saal am Ende eines langen Flurs verirrt. Der Richter trägt einen spitzen Hut wie ein Zauberer und einen langen Schal. Seine Hände liegen auf einem Ordner. Er trägt Handschuhe. Wir warten seit einem Jahr auf Sie, sagt er vorwurfsvoll, als Heiner den Saal betritt. Setzen Sie sich hinter den Angeklagten. Der Angeklagte trägt einen gut gebauten Anzug mit weißen Reihfäden. Er selbst hat sich nur eine Wolldecke um die Schultern gelegt. Stehen Sie auf, sagt der Richter. Er erhebt sich. Nein, nicht Sie, Herr Zeuge, der Herr, der vor Ihnen sitzt.
    Sind Sie verheiratet, fragt der Richter.
    Nein, sagt der Angeklagte.
    Waren Sie verheiratet?
    Nein.
    Warum nicht?
    Der Krieg.
    Und nach dem Krieg?
    Erst recht nicht.
    Warum erst recht nicht?
    Geht Sie nichts an.
    Der Angeklagte steht breitbeinig vor dem Richter, die Hände frech in die Hüften gestützt.
    Welche Aufgaben waren Ihnen dort übertragen worden?
    Der Angeklagte antwortet mürrisch. Das möchte ich auch mal wissen. Mal dies, mal das. Meistens habe ich mich gelangweilt.
    Waren Sie Zeuge?
    Ich? Nie! Ich bin vorher gegangen. Warum sollte ich mir diesen Mist ansehen?
    Haben Sie achtzig Kinder ins Feuer geworfen?
    Den Angeklagten schüttelt es vor Lachen. Er springt auf und biegt sich vor und zurück wie ein Busch im Wind. Ich habe dort keine Kinder gesehen, weil es dort keine Kinder gab. Hören Sie zu: Ich habe eintausendzweihundertvierzehn Menschen das Leben gerettet.
    Woher wissen Sie das so genau?
    Bin ich blöd? Ich kann zählen.
    Der Angeklagte beginnt zu zählen. Eins, zwei, drei, vier … Der Richter unterbricht ihn nicht, er macht Striche auf ein Blatt Papier. Der Angeklagte sagt: Ich habe für all diese Menschen Radieschen besorgt.
    Warum
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