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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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du willst, bedenkst alles voraus und plötzlich schiebt dir einer einen fiesen Brocken ins Leben, gegen den du machtlos bist. Er wickelt das Geschenk in buntes Weihnachtspapier, bindet eine dicke Schleife darum und schreibt mit großen Buchstaben OKE auf das Päckchen. Dann geht er noch einmal auf die Warft, nähert sich dem Haus des Postboten durch den Garten, legt das Geschenk vor die Tür, klopft an die Scheibe und entfernt sich rasch. Er weiß, dass Oke außer sich gerät vor Freude, das tröstet ihn. Der Junge wird in der Kirche die Kapuze nicht vom Kopf nehmen und sein Vater wird Heiner im neuen Jahr für das Cape verfluchen. Der Junge trägt den Zaubermantel draußen und drinnen, im Sommer und im Winter und weil sein Vater darauf besteht, dass er ihn nachts auszieht, deckt sich das Kind damit zu.
    Es gibt im Hause Rosseck keinen Christbaum, keine Kekse und keine Weihnachtslieder. Sie nennen die Feiertage Heiners Geburtstag, er darf sich drei Tage lang wünschen, was er essen möchte. Seit Wochen hängen in allen Fenstern Weihnachtssterne, in den Supermärkten preisen Kinderstimmen die Heilige Nacht, aber Heiner verteidigt jedes Jahr seine hundert Quadratmeter weihnachtslose Wohnfläche.
    Am Mittag des Heiligen Abends sitzt er am Küchentisch und schuppt einen Wels. Lena deckt den Tisch im Wohnzimmer wie es auch Olga heute tun wird, festlich und mit einem zusätzlichen Gedeck für den Unbekannten, der an diesem Abend kein Zuhause hat. Lena betrachtet diesen Platz seit vielen Jahren mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen, noch nie hat ein Gast an diesem Tag bei ihnen geklingelt, während an Olgas Tisch in Danzig schon zwei Mal Unbekannte saßen. Weihnachten vor drei Jahren war es ein Nachbar, dem die Frau an diesem Tag den Koffer vor die Tür gestellt hatte und vor einem Jahr zwei lustige Mädchen, die sich mit den Eltern langweilten und testen wollten, ob der polnische Brauch noch funktionierte. Beide Abende gehörten zu Olgas schönsten Weihnachtsfesten. Lena putzt das Silberbesteck, sie ruft durch die offene Küchentür: Mach dich auf einen Abend zu zweit gefasst, kein Mensch wird mit uns essen wollen.
    Denk an den unbekannten Gast.
    Wer soll das sein?
    Einer, den es zu mir zieht.
    Den du magst?
    Er schüttelt den Kopf.
    Lena sagt: Menschen, die du nicht magst, bewirte ich nicht.
    Es schneit ohne Pause. Sie sitzen zur blauen Stunde am Fenster und trinken Cocktail à la Zofia. Schnee ist eine herrliche Erfindung, sagt Heiner, mit Schnee kannst du die ganze Welt ersticken, langsam, leise, sanft und freundlich. Keine Wut ist im Schnee, keine Hektik, nur eine schöne, weiße, konsequente Gleichgültigkeit.
    Die Kirchenglocken läuten den Abend ein, gegen halb sechs ziehen sie sich für den Gottesdienst um. Lena nimmt das wärmste Kostüm aus dem Schrank, Heiner den weißen Anzug, den er an seinem siebzigsten Geburtstag trug.
    Weiß, sagt Lena tadelnd, willst du als Schneemann auf der Kanzel stehen?
    Schwarz trägt der Pfarrer, sagt Heiner, weiß ist die Farbe der Unschuld.
    Gegen sechs Uhr verlassen sie das Haus, reihen sich in die lange Schlange der Menschen ein, die die Stufen zum Kirchplatz hochsteigen. Der Pfarrer hat für Heiner und Lena Plätze in der ersten Reihe reserviert. Bevor die Orgel einsetzt, wird es still in der alten Holzkirche, nur die Bänke knacken, als wollten sie in dieser Stunde an die großen Fluten erinnern, die das Kirchengestühl alle hundert Jahre ins Meer reißt. Bei der letzten Sturmflut hat es sich ohne Beute zurückziehen müssen, weil die Gemeinde die Bänke unter das Kirchendach gehängt hatte. Zum Hall der letzten Orgeltöne besteigt der Pfarrer die Kanzel. Er segnet die Gemeinde, singt mit ihr, wie jedes Jahr, ›Vom Himmel hoch, da komm ich her‹, dann nennt er die Namen der Kinder, die er im letzten Jahr getauft hatte. Liza, Annika und Jule, Max und Daniel. Er gedenkt der Toten, die sie gemeinsam begraben haben. Inken Peterson verließ uns mit einhundertdrei Jahren. Hauke Asmus mit einundneunzig. Arne Lorenzen mit vierundsiebzig. Wir trauern um Sönke Ingwerson, der mit vierundzwanzig Jahren aus dem Leben schied. Der Pfarrer schlägt die Bibel auf. Es begab sich aber zu der Zeit …
    Heiner sieht sich um. In den ersten fünf Reihen sitzen die Alten der Gemeinde, schwarz gekleidete Frauen und Männer, die Hände im Schoß gefaltet, die jüngsten mögen fünfundfünfzig, die ältesten fast hundert sein. Sie bewegen die Lippen, sie kennen die Weihnachtsgeschichte, sie
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