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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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gestanden, so verzückt waren wir. Ich weiß nicht, wie lange sie uns gewähren ließen. Zehn Minuten? Eine Stunde? Plötzlich wurden Kameraden abgezogen: Du und du und du und du. Sie mussten in eine Baracke marschieren und als sie wieder herauskamen, trugen sie Muselmänner auf den Platz. Auf den Befehl ›Ablegen‹ legten sie sie unter den Baum wie Weihnachtsgeschenke. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Muselmänner, müsst Ihr wissen, waren für uns schon keine Menschen mehr und noch keine Toten. Es waren Wesen ohne Willen, Schatten, die einem Reich zwischen Leben und Tod angehörten. Niemand mochte ihnen nahe kommen, wir fürchteten sie wie eine ansteckende Krankheit. Sie waren uns den kleinen Hauch voraus, von dem wir nicht berührt werden wollten. Die Muselmänner waren unsere Zukunft. Wir hatten kein Mitleid mit ihnen. Wenn man sie auf die Füße stellte, fielen sie um. Muselmänner waren Gespenster. Hatten sie Gefühle? Man sah es nicht. Wer einem Muselmann begegnete, wendete die Augen ab. Wir schämten uns für diese Wesen, die keine Würde mehr hatten. Sie hockten im Lager wie Vögel ohne Flügel, sie waren die Brüder des Todes. Diese Wesen wurden von unseren Kameraden unter den Weihnachtsbaum gelegt. Noch ein Wunder? Durften die Muselmänner mit uns Weihnachten feiern? Gestattete ihnen die SS, noch einmal im Leben einen Tannenbaum zu sehen? Die Welt war verkehrt an diesem Tag. Und während wir noch wie hypnotisiert auf diese gespenstische Aktion starrten, wurden Befehle gebrüllt: Eimer! Wasser! Marsch! Es war schaurig kalt an diesem Tag, minus vierunddreißig Grad. Heiliger Abend. Das Wasser wurde auf die Menschen unter den Bäumen gegossen, in kurzer Zeit waren die Muselmänner in einem Eisblock eingeschlossen. Ich weiß nicht, ob die Prozedur eine Stunde oder eine Nacht gedauert hat, das Zeitgefühl setzte aus, mir war, als hätte ich ein ganzes Jahr dort gestanden.
    Eine Bank knarrt, ein Ehepaar verlässt die Kirche. Heiner sieht die Gemeinde nicht mehr, er sieht auch Lena nicht, er steht nicht auf der Kanzel, er steht auf dem Appellplatz. Seine Stimme ist kaum zu verstehen.
    Menschen umbringen … Er spricht leise mit fassungslosen Pausen. Auf diese Weise … Am Heiligen Abend … Und die Mörder waren Christen …
    Sein Blick kommt zurück. Er schaut die Alten an und deren Kinder, er hebt den Kopf zur Empore. Von den jungen Leuten hat niemand die Kirche verlassen. Oke winkt mit beiden Händen. Heiner wäre nicht Heiner, wenn er nicht auch den Schluss erzählen würde.
    Es gab eine Stimme in mir, eine klare Stimme, nicht männlich, nicht weiblich, nicht alt, nicht jung. Sie sagte: Wenn du ein Mensch bist, leg dich dazu. Tu es für die Toten im Eis. Mein Freund stand neben mir. Ich flüsterte: Leszek, ich leg mich dazu. Er zischte: Dupa. Arschloch.
    Heiner verbeugt sich. Er steckt das Manuskript in die Anzugjacke. Meine Geschichte ist ein Weihnachtsgeschenk, sagt er, packt es aus, die Botschaft ist bescheiden. Ob wir Engel oder Teufel sind, bestimmen wir selber. Und nun wollen wir das Essen genießen, das auf uns wartet. Frohes Fest.

Nie hat sich am Heiligabend ein überraschender Besuch bei ihnen eingefunden, trotzdem halten sie an der Tradition des leeren Stuhles und des zusätzlichen Gedecks fest. Eine Suppentasse, ein Teller, Löffel, Messer und Gabel, ein Weinglas für den unbekannten Gast. Am ersten Weihnachtstag will Lena das dritte Besteck nicht mehr auflegen, der Brauch, sagt sie, gelte nur für den Heiligen Abend, aber Heiner besteht darauf, eine der schönsten Sitten, die er kennt, an jedem seiner drei Geburtstagstage zu zelebrieren. Kann doch sein, dass es einem Menschen nicht gut geht, sagt er, ist doch möglich, dass einer, der gestern in der Kirche gesessen hat, heute mit mir reden will.
    Lena stellt die knusprig braune Ente auf den Tisch. Das Rotkraut dampft in der Schüssel, der Löffel steckt im Kartoffelbrei. Sie schaut auf die Uhr. Sie gießt Weißwein in zwei Gläser. Der schielende Kuckuck schnellt aus dem Kasten und reißt acht Mal den verkleckerten Schnabel auf. Schau, wer das ist, ruft Lena, als es wenig später klingelt, ich habe die Sauciere in der Hand. Heiner geht in den Flur. Vor der Tür bleibt er stehen, ohne sie zu öffnen. Er hat es gewusst, er hat ihn erwartet und weiß in diesem Augenblick, dass er diesen Gast nicht will. Dieser Mann soll sein Haus nicht betreten. Lena ruft aus der Küche: Heiner, der Tisch ist gedeckt.
    Er öffnet die Tür. Spuren im Schnee,
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