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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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predigst, besuche ich Olga. Wenn du predigst, bist du Weihnachten alleine. Heiner sieht unglücklich aus und arbeitet weiter.
    Mir zuliebe, Heiner: Tu es nicht.
    Wovor hast du Angst?
    Du bist nicht gesund. Außerdem wirst du die Gemeinde verprellen.
    Sie werden es überleben.
    Und unser Weihnachten?
    Er nimmt sie in den Arm. Du bleibst bei mir? Lena, Schatz, es wird ein schönes Fest. Wir kochen, wir decken einen festlichen Tisch, unser Haus ist nach altem polnischen Brauch offen für den unbekannten Gast.
    Niemand wird kommen.
    Doch. Einer.
    Heiner sieht aus, als schriebe er an einem Text, der ihn glücklich macht. Er ist gut gelaunt und sehr lebendig. Lena gibt auf. Er muss es tun, auch wenn er in die Gemeindegeschichte als der zweite Prediger eingehen sollte, der am Heiligen Abend von der Kanzel stürzt.

Heiner mag Oke und Oke liebt Heiner, weil, wie sein Vater vermutet, Heiner etwas von der Zuverlässigkeit einer Uhr hat. Wenn er sagt, er komme um drei, steht er um drei vor der Tür. Er ist der einzige Erwachsene, für den Oke seine Fensterbank verlässt. Um mit dem Jungen spazieren zu gehen, verzichtet Heiner mittwochs und freitags auf den Mittagsschlaf. Für ihn ist Oke keine Kugel aus Glas, er kann nicht sehen, was das Kind bewegt, er hält es für klug, auch wenn es in der Schule nichts begreifen würde. Das Unterrichtsfach, in dem Oke Klassenbester wäre, gibt es nicht. Nach einem der ersten gemeinsamen Spaziergänge sagt er zu Lena:
    Der Junge ist mit einem Lamm befreundet.
    Ich auch.
    Hör, Lena. Wir gehen an der Weide entlang, auf der Schafe und Lämmer stehen. Plötzlich stellt sich der Junge an den Zaun und stößt merkwürdige Laute aus. Ich habe gesehen, wie ein Lamm den Kopf hob und angesprungen kam, als hätte es von den Eltern die Erlaubnis bekommen.
    Jedes Schaf kommt, wenn man es ruft.
    Er reagiert auf Bäume.
    Und sie auf ihn?
    Heiner hat nach jedem Spaziergang deutlicher das Gefühl, mit einem Seismographen unterwegs zu sein. Eine Weile liegt die Hand des Jungen ruhig in seiner Hand, beginnt dann plötzlich zu zucken oder hält sich mit viel Kraft an ihm fest. Erschrickt Oke, wenn er sich festkrallt, hat er dann Angst? Was ängstigt ihn? Und ist die Hand, die ruhig bleibt, Ausdruck von Ruhe und Freude? Was freut Oke?
    Ein Kind ist kein Experiment, sagt Lena.
    Ich will den Jungen verstehen.
    Sei ehrlich, du willst von ihm lernen.
    In gewisser Weise hat Lena Recht. Heiner unterstellt dem Jungen Fähigkeiten, die über das Sehen, Hören und Wahrnehmen normaler Menschen hinausgeht, als wäre Oke ein Frühwarnsystem.
    Komm, Oke, wir gehen spazieren.
    Seit Wochen beobachtet Heiner Okes Reaktionen. Auf Kinder reagiert er anders als auf Erwachsene. Lächelt ihn ein Kind an, lacht er, sieht er ein Kind weinen, schreit er, Begegnungen mit Erwachsenen scheint er nicht wahrzunehmen. Ob ihm große Menschen gleichgültig sind? Sie gehen zum Bäcker und zum Metzger, keine Reaktionen, nur am Meer, bei den Krabbenfischern, bewegt sich Okes Hand in Heiners Hand. Es sind nicht die Menschen, die ihn erregen, es sind die Fische. Er macht keinen Unterschied zwischen denen, die zappelnd, um Luft ringend ihre Körper verbiegen und denen, die ruhig in den Kisten liegen wie schlafende Puppen. Er drückt Heiners Hand und der weiß nicht, ob Okes Unruhe Angst oder Freude bedeutet oder eine Empfindung, die Heiner nicht kennt.
    Komm, Oke, wir besuchen den alten Schneider.
    Sie gehen über die Warft, vorbei am Haus, in dem Oke mit seinem Vater wohnt, ein paar Schritte den Abhang hinunter zur ehemaligen Werkstatt des Schmieds, in die sich der alte Schneider die Nähstube, sein Wohn- und Schlafzimmer und einen Schuppen mit fünf Hühnern hineingebaut hat. Heiner betritt die Werkstatt wie ein Dieb. Er stiehlt mit den Augen. Vielleicht verrät irgendetwas in diesem Raum die Herkunft des Mannes, der ihm nicht geheuer ist. Was er sieht, ist banal. Zwei Nähmaschinen, lange Kleiderständer und Bügel, auf denen Hemden hängen, die keine Ärmel haben, Anzüge mit weißen Reihfäden, auf den Tischen liegen Stecknadeln mit bunten Köpfen und Kästen mit Garnen in allen Farben und Schattierungen, von der Decke hängt ein Metermaß. Eine Schneiderwerkstatt – was hatte er erwartet? Auf der Kommode liegt eine angebrochene Schachtel Zigaretten. Heiner drückt Okes Hand, der Junge erwidert den Druck.
    Seltener Besuch, sagt der alte Schneider und schiebt den Vorhang beiseite, hinter dem ein schmales, ungemachtes Bett steht.
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