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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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ein Experiment und ich bin ein neugieriger Mensch. Ich glaube, dass uns der Zufall eine Menge Angebote macht und wir entscheiden, wo wir zugreifen und wo wir eine Möglichkeit vorbeiziehen lassen. Ich beobachte das Leben, das ist es, was mich munter hält.
    Der Pfarrer kommt wieder. Er lässt sich Heiners Lebensgeschichte erzählen. Er will verstehen, woher dieser Mann die Kraft zum Leben nimmt.
    Ich verdanke die Kraft guten Kameraden, dem Zufall und dem Glück.
    Der Pfarrer schließt die Kirche abends nicht ab, er lässt Heiner mit der Stille allein. Manchmal legt er in die letzte Reihe eine aufgeschlagene Bibel mit einem Text, über den er reden will. Heiners Satz vom Leben als Experiment lässt ihm keine Ruhe, wer so denke, sagt er beim nächsten Besuch, mache sich selber zum Gott, das sei …
    Blasphemie? Das ist mein ganz persönliches Lebensgefühl.
    Aber Herr Rosseck – woher nehmen Sie den Sinn des Lebens, wenn Sie nicht an einen Schöpfer glauben?
    Der Pfarrer versucht es mit der Angst vor dem Tod, aber Heiner hat keine Angst vor dem Tod. Was danach kommt, ist das Nichts, sagt er und über das Nichts wissen wir wenig. Vielleicht besteht es aus Erinnerungen, dann habe ich dort viel zu tun. Was ich fürchte und hasse, Herr Pfarrer, ist der Tod der Menschen, die ich liebe.
    Beim nächsten Besuch sagt Heiner: Sie sind jung, wie lange arbeiten Sie schon in der Gegend?
    Zehn Jahre.
    Sie kennen Ihre Schäfchen?
    Jedes einzelne.
    Auch den alten Schneider von der Warft?
    Der Pfarrer nickt. Er kam vor dreißig Jahren, sagt man, kaufte die verlassene Werkstatt des Schmieds und renovierte sie. Er hat keine Freunde, so viel ich weiß, aber treue Kunden. Er ist ein unauffälliger Bürger, ein Einzelgänger, der niemanden etwas zuleide tut. Früher hat er die Jungen im Fußball trainiert und er nimmt, so lange ich ihn kenne, am Gottesdienst teil.
    Ist er gläubig?
    Er kennt die Lieder und Gebete.
    Wissen Sie, woher er kommt?
    Interessiert Sie der Mann?
    Nein.
    Warum fragen Sie?
    Wir begegnen uns. Er raucht mit mir.

An einem Sonntagnachmittag im Herbst lädt sich der Pfarrer zum Kaffee ein. Er bringt Apfelkuchen mit, will an diesem Tag nicht über Gott streiten, sondern eine Dorflegende erzählen. Er habe, sagt er, in einem alten Kirchenbuch die Notiz gefunden, dass vor vielen Jahren der Pfarrer Anselm P. am Heiligen Abend, beim Vortragen der Weihnachtsgeschichte, starre Augen bekommen habe, zu schwanken begann und mit dem Schrei ›Ich sehe ihn, den Stern von Bellehäm‹ von der Kanzel gestürzt sei. Der Tierarzt, der an diesem Abend auch der Notarzt war, habe festgestellt, dass die Vision durch eine Flasche Korn hervorgerufen worden war. Der Schrei ›Ich sehe ihn, den Stern von Bellehäm‹, sei in der Gemeinde zum geflügelten Wort geworden. Zwei Männer, sagt der Pfarrer, haben den lallenden Seelsorger nach Hause geschleift. In der Kirche war es totenstill. Keine Bank hat geknarrt. Weiße Atem-Fähnchen schwebten durch das kalte Kirchenschiff. Und wissen Sie, was? Bevor die Gemeinde enttäuscht auseinander lief, hat sich der Dorflehrer erhoben, ist auf die Kanzel gestiegen und hat von den Geschehnissen des Jahres erzählt. Der Geburt des Zwillingspaares Ingar und Ingmar, der Hochzeit des Organisten, dem Tod der alten Frau Emma, die hundert Jahre alt werden wollte und nur achtundneunzig geschafft hat.
    Schöne Geschichte, sagt Heiner, und weiter?
    Der Brauch lebt fort. Nach der Weihnachtsgeschichte spricht ein Laie.
    Und?
    Noch ist die Kanzel vakant.
    Sie bieten mir die Predigt an?
    Als der Pfarrer gegangen war, sagt Lena: Das lehnst du ab!
    Warum?
    Ich kenne deine Weihnachtsgeschichte. Gute Laune macht sie nicht.
    Wo steht geschrieben, Weihnachten sei das Fest der guten Laune?
    Weihnachten, sagt Lena, ist das Fest der Liebe und des Friedens.
    Das ist mein Thema.
    Wenn der Pfarrer noch einmal mit Kuchen kommt, sagt Lena, zeig ich ihm das Glas mit den Knöchelchen, dann gibt es keinen Zweifel mehr an dem Inhalt deiner Predigt. Bitte, Heiner, sag nicht zu, bevor du sicher bist.
    Ich bin sicher.
    Bis Anfang Dezember lassen sie das Thema ruhen. Eine Woche vor Weihnachten beginnt Heiner, auf kleine Zettel Notizen zu schreiben, die er nach dem Abendspaziergang in die Maschine tippt. Nachts sitzt er im Wohnzimmer und blättert in dem Großen Buch. Er raucht. Lena bittet den Arzt, Heiner den Auftritt in der Kirche und die Aufregung zu verbieten, der Arzt lehnt die Bevormundung ab. Sie versucht es mit Erpressung: Wenn Du
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