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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort
Autoren: Monika Held
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sprechen sie mit dem Pfarrer wie ein Gebet. In den Reihen sechs bis zwölf sitzen ihre Kinder, die Generation zwischen dreißig und sechzig. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Auf der Empore sitzen die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde in weißen Hemden und schwarzen Anzügen. Hören sie dem Pfarrer zu, oder sind ihre Gedanken bei den Geschenken, die sie nach dem Gottesdienst bekommen werden? Ihm gefallen die Gesichter der Jungen und Mädchen dort oben, sie sind schön, weil sie unfertig sind. Nicht froh, nicht heiter, aber auch nicht böse und enttäuscht, es sind Entwürfe von Gesichtern, Larven, in denen man nicht lesen kann. Sie wissen nicht, dass das wertvollste Geschenk an diesem Tag nicht unter dem Tannenbaum liegt. Wenn sie wollten, könnten sie es sehen. Es sind die Köpfe, die Rücken und Hände ihrer Eltern und Großeltern, die erzählen, wie sie leben und gelebt haben. Wer oben sitzt, kann die eigene Zukunft sehen oder von einer anderen Zukunft träumen. Bald werden auch sie die Empore verlassen müssen für die Jüngeren, werden auf den hinteren Bänken Platz nehmen und sich schneller als sie glauben in den ersten Reihen wiederfinden, dort, wo jetzt ihre Großeltern sitzen. Vor der ersten Reihe ist das Grab. Dazwischen ist das Leben, das man gewähren lässt oder gestaltet. Der Blick von der Empore ist ein Blick auf das Leben, was für ein Weihnachtsgeschenk.
    Der Pfarrer schließt die Bibel. Bevor er von der Kanzel steigt, erinnert er an den alten Brauch, einem Mitglied der Gemeinde an diesem Tag die zweite Predigt zu überlassen. Lena schickt kein Gebet zum Himmel, auch keine Bitte, sie schickt Befehle: Lieber Gott, lass Feuer ausbrechen! Schicke eine Sturmflut, ich weiß, dass du das kannst. Lass den Schnee durchs Dach brechen, den Blitz einschlagen, erscheine persönlich, entsende einen Engel, auf dass alle in Ohnmacht fallen, verhindere, dass er spricht! Zu spät. Heiner steht auf, er gibt dem Pfarrer die Hand. In der Kirche bleibt es still. Heiner steht im weißen Anzug auf der Kanzel und sucht Lenas Augen. Gut sieht er aus, nicht wie ein Schneemann. Er schaut kurz zur Empore und lächelt in das runde Kindergesicht, das in einer samtblauen Kapuze steckt. Dann hört Lena die Stimme, in die sie sich auf dem Gerichtsflur vor über dreißig Jahren verliebte. ›Servus‹ hatte der Mann gehaucht, der vor ihren Augen zusammensackte und es fertig brachte, in die schwache Stimme noch Charme und Spott zu legen. Jetzt ist die Stimme ruhig und stark. Sie zittert nicht.
    Ich will euch von einem Heiligen Abend erzählen, wie er mir vor langer Zeit zugestoßen ist. Danach habe ich dieses Fest, so wie man es begeht, aus dem Kalender gestrichen. Ich habe die drei Weihnachtstage zu meinem Geburtstag erklärt.
    Lena beruhigt sich. Er steht gelassen auf der Kanzel, als würde er hier jeden Sonntag sprechen – er wird seine Sache bis zum Ende gut machen. Und sollten alle aufstehen und die Kirche verlassen, Heiner würde auch zu leeren Bänken sprechen.
    Heute ist wieder ein Heiliger Abend, sagt Heiner und schaut dem alten Mann in die Augen, der hinter Lena in der zweiten Reihe sitzt.
    Es war ein besonders trauriger Tag. Wir waren mit den Gedanken in der Heimat, wir stellten uns Tannenbäume mit Kerzen und Lametta vor, ein warmes Zimmer und Zuckerkringel, wir dachten an unsere Liebsten und niemand hat sich für seine Tränen geschämt.
    In der Kirche ist es still.
    An dem Heiligen Abend, von dem ich erzählen will, hatte die SS vor dem Küchengebäude einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Einen riesengroßen Weihnachtsbaum! Elektrische Kerzen auf den Zweigen, wir starrten auf den Baum wie auf ein Phantom. Was war los mit den Nazis? War der Krieg zuende? Wollten sie sich gut mit uns stellen? Uns versöhnen? War Erbarmen in sie eingekehrt? Wir hätten jede Gemeinheit verstanden, aber nicht diesen Baum. Dann war Abendappell. Zwanzigtausend Männer in gestreiften Lumpen, voller Hoffnung und Misstrauen. Die Glocke läutete. Es war der 24. Dezember 1942.
    Der Mann in der zweiten Reihe steht auf, schlurft langsam durch den Gang auf den Ausgang zu. Alle sehen ihm nach. Heiner wartet, bis der alte Schneider die Kirchentür hinter sich zugezogen hat und sich die Gesichter wieder der Kanzel zuwenden.
    Die Nazis wollten uns ein friedliches Fest schenken. Freiwillig hätten wir bis zum nächsten Morgen vor diesem Baum stramm
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