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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Autoren: April Genevieve Tucholke
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Erstes Kapitel
    »Man hört auf, den Teufel zu fürchten, wenn man seine Hand hält.«
    Das hatte Freddie mal zu mir gesagt, als ich klein war.
    Alle nannten meine Großmutter immer nur bei diesem Spitznamen, sogar meine Eltern, weil » Freddie« – kurz für Frederikke – nun mal ihr Name sei, wie sie stets betonte . Nicht Mom oder Grandma. Einfach nur Freddie.
    Nachdem sie das mit dem Teufel gesagt hatte, fragte sie: »Liebst du deinen Bruder?«
    »Luke ist immer verdammt gemein zu mir«, antwortete ich.
    Ich weiß noch, dass mein Blick dabei auf die Stufen der prächtigen Treppe aus rosa Marmor geheftet war, die wir gerade Seite an Seite hinaufgingen. Der Stein war von schwarzen Äderchen durchzogen, die wie die blauen Krampfadern auf Freddies weißen Beinen aussahen, und ich dachte, dass die Treppe wohl langsam alt wurde, genau wie sie.
    »Du sollst nicht verdammt sagen, Violet.«
    »Du sagst selbst die ganze Zeit verdammt.« Das stimmte wirklich. »Luke ist so gemein, dass er mich mal diese verdammte Treppe runtergeschubst hat«, fügte ich hinzu. Ich war bei dem Sturz nicht gestorben, falls das seine Absicht gewesen war, aber ich hatte mir dabei zwei Zähne ausgeschlagen und eine Platzwunde an der Stirn zugezogen, die wie verrückt geblutet hatte. »Ich liebe meinen Bruder nicht, und es ist mir egal, was der Teufel davon hält, weil es nun mal die Wahrheit ist.«
    Freddie warf mir einen strengen Blick zu. Ihre holländischen Augen strahlten trotz ihres Alters in ungetrübtem Blau. Diese blauen Augen hatte sie mir vererbt, genau wie ihre blonden Haare. Dann fasste sie mit ihren runzligen Händen nach meinen. »Es gibt solche und solche Wahrheiten, Violet. Und so manche verdammte Wahrheit bleibt lieber unausgesprochen, denn sonst hört sie der Teufel und kommt dich holen. Amen.«
    Als junge Frau trug Freddie Pelze, feierte Partys, trank Cocktails und förderte Künstler. Sie hatte mir aus ihrer Zeit als junge Frau wilde Geschichten erzählt, in denen es um jede Menge Alkohol, Bräute, Kerle und Skandale gegangen war.
    Aber dann war etwas geschehen. Etwas, worüber Freddie nie sprach. Etwas Schlimmes. Es gibt etliche Leute, die schlimme Dinge erlebt haben, aber wenn sie jammern, sich die Augen ausheulen und jedem davon erzählen, der bereit ist zuzuhören, dann ist nichts dran. Oder zumindest nicht viel. Über das, was die Menschen wirklich verletzt, woran sie beinahe zerbrechen … sprechen sie nicht. Niemals.
    Manchmal beobachtete ich Freddie dabei, wie sie etwas schrieb, spätnachts und oft so fieberhaft, dass ich hörte, wie das Papier unter ihrem Stift zerriss … aber ich hatte keine Ahnung, ob sie Tagebuch führte oder Briefe an Freunde verfasste.
    Vielleicht war meine Großmutter deswegen so sittsam und fromm geworden, weil ihre Tochter so jung ertrunken war. Vielleicht gab es auch einen anderen Grund dafür. Was auch immer es war, Freddie suchte offenbar nach etwas, das die Leere füllen konnte, die zurückgeblieben war. Und sie fand Gott. Gott und den Teufel. Denn der eine existiert nicht ohne den anderen.
    Freddie redete ständig vom Teufel, fast so, als wäre er ihr bester Freund oder eine verflossene Liebe. Doch obwohl sie so viel über ihn redete, sah ich Freddie nie beten.
    Dafür betete ich.
    Und zwar zu Freddie – nachdem sie gestorben war. In den vergangenen fünf Jahren hatte ich so oft zu ihr gebetet, dass daraus ein Reflex geworden war, so wie man ganz automatisch auf eine heiße Suppe pustet, wenn man den Löffel zum Mund führt. Ich erzählte Freddie in meinen Gebeten davon, dass meine Eltern nicht mehr da waren. Dass das Geld knapp wurde. Und dass ich manchmal so einsam war, dass ich das Gefühl hatte, der verdammte Wind, der vom Atlantik in mein offenes Fenster wehte, stünde mir näher als mein Bruder im Zimmer über mir.
    Und ich betete wegen des Teufels zu Freddie. Ich bat sie, dafür zu sorgen, dass er nicht nach meiner Hand griff, dass sie mich vor ihm beschützte.
    Aber ungeachtet all meiner Gebete fand der Teufel mich trotzdem.

Zweites Kapitel
    Ich wohnte mit meinem Zwillingsbruder Luke zusammen in einem großen Haus. Wir waren erst siebzehn und hätten von Rechts wegen eigentlich einen Vormund gebraucht, aber darum kümmerte sich niemand.
    Unsere Eltern waren Künstler. Maler, um genau zu sein. John und Joelie Iris White. Sie liebten uns, aber noch mehr liebten sie die Kunst. Im vorigen Herbst waren sie aufgebrochen, um nach Europa zu reisen, sich in Straßencafés und alten
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