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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Autoren: April Genevieve Tucholke
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konnten, nützte es uns nichts. Deswegen hatte ich auf die Zettel, die ich aufgehängt hatte, um einen Mieter zu suchen, auch keine Nummer geschrieben.
    Ich konnte mich nicht daran erinnern, wer zuletzt hier zu Gast gewesen war. Vermutlich irgendwelche Künstlerfreunde meiner Eltern. Auf dem Fensterbrett lagen vertrocknete Farbtuben herum und im Spülbecken standen Pinsel, die zwar ausgewaschen, dann aber vergessen worden waren. Außerdem roch es leicht nach Terpentin – ein Geruch, den ich als tröstlich und zugleich als aufdringlich empfand.
    Im Vorbeigehen nahm ich die Pinsel aus der Spüle, um sie wegzuwerfen, aber die Borsten in meiner Handfläche fühlten sich feucht an. Also waren sie doch nicht von Gästen hier vergessen, sondern erst kürzlich noch benutzt worden.
    Ich spürte, wie River mich beobachtete. Er sagte nichts. Ich stellte die Pinsel wieder ins Spülbecken zurück, ging ins Schlafzimmer vor und trat einen Schritt zur Seite, damit River seine Koffer auf das Bett wuchten konnte. Ich hatte diesen Raum mit den gelb-weiß gestreiften Vorhängen und den rot gestrichenen Wänden, die mittlerweile rosa verblichen waren, immer gemocht. River sah sich um und nahm mit seinen flinken braunen Augen alles in sich auf. Er ging zur Kommode, zog die oberste Schublade auf, warf einen Blick hinein und machte sie wieder zu. Dann schob er die Vorhänge zur Seite und öffnete die beiden zum Meer hin liegenden Fenster.
    Frische salzige Luft strömte in den Raum und ich atmete tief ein. Genau wie River übrigens, dessen Brust sich dabei weitete, sodass ich sehen konnte, wie sich seine Rippen am Stoff seines Hemds abzeichneten.
    Obwohl das Gästehaus ein Stück weiter vom Meer entfernt lag als Citizen Kane, konnte man noch einen breiten Streifen sattes Blau durchs Fenster sehen. Ich entdeckte in der Ferne ein großes Schiff und fragte mich, woher es wohl kam und wohin es wollte. Normalerweise wünschte ich mir beim Anblick von Schiffen immer, ich stünde selbst an Deck und würde an einen kalten, exotischen Ort reisen. Aber heute wurde ich ausnahmsweise nicht von Fernweh gepackt.
    River ging zum Bett und streckte sich, um das schwarze Kruzifix abzunehmen, das über dem Kopfende hing. Er trug es zur Kommode, zog erneut die oberste Schublade auf, legte es hinein und drückte die Schublade mit der Hüfte zu.
    »Citizen Kane ist von meinem Großvater gebaut worden«, erzählte ich. »Aber das Gästehaus hier hat meine Großmutter Freddie geplant und eingerichtet. Sie ist im Laufe der Zeit sehr gläubig geworden.« Mein Blick war auf die Wand geheftet, wo man einen Abdruck des Kreuzes sah, weil die Sonne die Farbe an der Stelle nicht ausgebleicht hatte. »Wahrscheinlich hing es schon seit Jahrzehnten dort. Bist du Atheist? Hast du es deswegen abgehängt? Ich bin bloß neugierig. Infolgedessen dachte ich, ich frage dich einfach.«
    Ich zuckte zusammen. Infolgedessen ? Dass ich mehr Zeit mit meinen Büchern verbrachte als mit echten Menschen, wirkte sich offenbar allmählich auf meinen Sprachgebrauch aus.
    River schien es nicht zu bemerken. Das heißt, vielleicht bemerkte er es, aber da er alles an mir und dem Zimmer in sich aufzunehmen schien, wusste ich nicht, ob er meine Wortwahl im Besonderen bemerkt hatte.
    »Nein, ich bin kein Atheist. Ich schlafe nur nicht gern mit einem Kreuz über dem Kopf.« Er sah mich wieder an. »Wie alt bist du eigentlich? Siebzehn?«
    »Gut geschätzt«, antwortete ich. »Mein Bruder behauptet immer, ich würde noch wie zwölf aussehen.«
    »Dann sind wir gleich alt.« Pause. »Meine Eltern sind für ein paar Wochen in Südamerika. Sie sind Archäologen. Eigentlich soll ich so lange hier bei meinem Onkel in Echo wohnen, aber ich hatte keine Lust, bei ihm zu bleiben. Dann hab ich deinen Zettel gesehen und – voilà – hier bin ich. Irgendwie seltsam, dass wir beide Eltern haben, die sich aus dem Staub gemacht und uns allein gelassen haben, findest du nicht?«
    Ich nickte. Ich hätte ihn gern gefragt, wer sein Onkel war, wo er sonst wohnte und wie lange er vorhatte, in unserem Gästehaus zu bleiben. Aber er sah mich auf eine Art an, dass ich kein Wort über die Lippen brachte.
    »Wo ist dein Bruder?« River fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Ich starrte ihn und seine zerzausten Haare so lange an, bis er es merkte und ich verlegen den Blick abwandte.
    »Unten in der Stadt. Du lernst ihn später bestimmt noch kennen. Aber ich würde mir davon nicht zu viel versprechen. Er ist nicht so
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