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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Autoren: April Genevieve Tucholke
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Eingangsportal wurde von zwei steinernen Säulen flankiert, zwischen denen die Stufen sich wie ein abstrakt gemalter Wasserfall in die Tiefe stürzten. Von ihrem Fuß aus breitete sich unser von Unkraut überwucherter, vergessener Rasen bis zu der unbefestigten Straße aus. Dahinter fiel das Gelände steil ab und endete in der donnernden Brandung.
    Ich saß also dort, las Kurzgeschichten von Nathaniel Hawthorne und blickte zwischendurch zum weit entfernten, mit den Wellen verschmelzenden Horizont hinaus, als ein gepflegter Straßenkreuzer in unsere Straße bog, an Sunshines Haus vorbeifuhr und in unsere kreisförmige Einfahrt schwenkte. Es war ein Wagen aus den 50er-Jahren, ein Riesenschlitten, der mit Sicherheit Unmengen von Sprit schluckte, aber trotz seines Alters so perfekt in Schuss war, als wäre er gerade erst vom Produktionsband gerollt. Der Lack glänzte wie die Augen eines kleinen Kindes an Weihnachten.
    Der Wagen hielt und ein Junge stieg aus. Er war ungefähr in meinem Alter, weshalb ich ihn nicht als Mann bezeichnen kann. Also ein Junge . Ein Junge stieg aus und sah mich an, als hätte ich ihn gerufen.
    Hatte ich aber nicht. Er kannte mich nicht. Und genauso wenig kannte ich ihn. Er war nicht besonders groß – vielleicht höchstens ein Meter fünfundsiebzig –, schlank, aber trotzdem kräftig. Er hatte dichte, leicht gewellte dunkelbraune Haare, die er seitlich gescheitelt trug, bis der Wind hineinfuhr und sie zerzauste. Mir gefiel sein Gesicht und seine gebräunte Haut, die erahnen ließ, dass er im Sommer jeden Tag draußen verbrachte. Und ich mochte seine braunen Augen.
    Er sah mich an. Ich sah ihn an.
    »Bist du Violet?«, fragte er und fügte, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Ja, die bist du wohl. Ich heiße River. River West.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »Und das hier muss Citizen Kane sein.«
    Er musterte unser Haus, worauf ich mich umdrehte und es ebenfalls ansah. Wenn ich an Citizen Kane dachte, dann leuchteten die steinernen Säulen immer strahlend weiß und die Rahmen der großen Fenster waren so blau lackiert wie die Eier einer Wanderdrossel, die Büsche waren gepflegt und gestutzt und in der Mitte des Springbrunnens in der Einfahrt standen anmutige nackte Statuen. Aber der Brunnen, den ich jetzt sah, war verwittert und mit Moos bewachsen und den armen unverhüllten Mädchen fehlten insgesamt eine Nase, drei Finger und eine Brust. Das einst strahlende Blau der Fensterleisten war grau ausgebleicht und blätterte ab. Die Büsche hatten sich in ein über zwei Meter hohes Gestrüpp verwandelt.
    Ich schämte mich nicht für Citizen Kane, weil es immer noch ein verdammt prächtiges Anwesen war, aber jetzt fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht die Büsche hätte trimmen sollen. Oder die nackten Brunnenmädchen schrubben. Oder die Fensterrahmen lackieren.
    »Ziemlich viel Platz hier für ein blondes, lesendes Mädchen«, sagte der Junge, nachdem wir beide eine Weile das Haus betrachtet hatten. »Bist du allein? Oder sind deine Eltern auch irgendwo in der Nähe?«
    Ich klappte mein Buch zu und stand auf. »Meine Eltern sind in Europa«, entgegnete ich und sah ihn herausfordernd an. »Wo sind deine?«
    Er lächelte. »Eins zu null für dich.«
    Unsere Stadt war so klein, dass ich nie ein gesundes Misstrauen gegenüber Fremden entwickelt hatte. Für mich waren Fremde aufregend wie eine in Geschenkpapier verpackte Überraschung und verströmten den süßen Duft unbekannter Orte wie Parfum. Deswegen löste River West keinerlei Argwohn in mir aus … nur eine Art nervöses Kribbeln, so wie kurz vor einem heftigen Gewitter, wenn die Luft vor Erwartung knistert.
    Ich erwiderte sein Lächeln. »Ich wohne hier mit meinem Zwillingsbruder Luke, aber der bleibt meistens im dritten Stock. Wenn ich Glück habe.« Mein Blick wanderte nach oben, wo die Fenster des dritten Stocks von dem auf den Säulen ruhenden Vordach verdeckt wurden. Ich schaute wieder den Jungen an. »Woher weißt du, wie ich heiße?«
    »Dein Name steht auf den Zetteln, die in der Stadt aushängen, Dummerchen«, antwortete River lächelnd. » Gästehaus zu vermieten. Fragen Sie im Ort nach der Adresse von Citizen Kane und dort nach Violet. Genau das hab ich gemacht und bin hierhergeschickt worden.«
    Bei ihm klang »Dummerchen« nicht so wie bei Luke, der es mit zusammengekniffenen Augen und einem herablassenden Grinsen sagte. Bei River hörte es sich an wie ein … Kosewort. Was mich irgendwie verwirrte. Ich ließ
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