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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen
Autoren: white
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1
    April 1856
    E s ist nicht zu fassen«, murmelte Johanna, klappte entschlossen ihren Sonnenschirm zusammen und stapfte die Sanddüne hinauf. Dahinter türmte sich die große Sphinx. »Vor uns erheben sich Weltwunder, und die Damen plappern über die Qualität ihres Spitzenbesatzes.«
    Schon nach wenigen Schritten wünschte sie, die Absätze ihrer Stiefeletten wären flacher und die Weite ihres Rocks weniger ausladend. Wer auf die Idee gekommen war, ihr Kleid als leichte Reisebekleidung zu bezeichnen, hatte mit Sicherheit noch nicht in der Hitze eines ägyptischen Apriltags Sanddünen darin erklettert. Außer Atem erreichte sie die Dünenkuppe und sah sich um. Sie hatte die Pyramiden schon aus weiter Entfernung in den Himmel ragen sehen, menschengemachte Berge in einer Landschaft, die, abgesehen von den niedrigen Dünen, so flach war wie die Umgebung ihrer Geburtsstadt Hamburg. Nun waren sie zum Greifen nah. Beinahe konnte sie das Knallen der Peitschen hören, die Schreie der Vorarbeiter, die die Sklaven unbarmherzig antrieben, ein Grabmal zu bauen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Ein warmer Wind strich über Johannas Gesicht, und sie meinte, den Atem des toten Pharaos zu spüren, der in ihr Ohr flüsterte: »Ich bin die Ewigkeit.«
    Sie bekreuzigte sich erschrocken, dann lachte sie verunsichert auf. Halluzinationen, nichts als die Halluzinationen einer überspannten, reisemüden Frau. Oder doch nicht? Dies war gewiss ein Ort für Geister.
    Sie raffte ihren unpraktischen Rock und kämpfte sich durch eine Senke, um näher zur Sphinx zu gelangen, vor der sich ihr Vater und einige Männer der Reisegruppe versammelt hatten.
    Auf der nächsten Dünenkuppe entdeckte sie ihre anderthalb Jahre jüngere Schwester, das Zeichenbrett auf den Knien. Johanna trat mit verhaltenen Schritten hinter sie, doch sie hätte sich ihre Vorsicht sparen können. Leah war völlig in ihr Tun versunken. Fasziniert beobachtete Johanna, wie sie gerade mit sicheren und kraftvollen Strichen die Sphinx aufs Papier bannte. Ein weiterer hingeworfener Strich und noch einer und noch einer, und plötzlich zog eine Kamelkarawane vor den gezeichneten Pyramiden vorbei. Tatsächlich gab es keine Karawane, aber Leah nahm sich wie immer gewisse Freiheiten. Mit einer unwirschen Handbewegung klemmte die Schwester nun eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich ganz undamenhaft aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte. Johanna betrachtete den dunklen Schopf ihrer Schwester. Die Versuche der Mutter, aus Leah eine ordentliche junge Dame zu machen, waren grandios gescheitert. Nicht nur die Frisur löste sich auf, auch das roséfarbene Kleid war nicht mehr exakt roséfarben zu nennen, die eigentlich hübschen weißen Schleifen der Rockgarnitur hingen schlaff herunter, Leahs Strohhut und Schuhe lagen neben ihr wie Fremdkörper. Sie musste die Düne auf Strümpfen erklommen haben. Johanna seufzte innerlich. Die Zeiten, als man ihrer trotzigen Schwester das jungenhafte Benehmen nachsah, waren unwiederbringlich vorbei. Leider interessierte sie sich auch mit ihren sechzehn Jahren noch immer nicht für die mannigfaltigen Aufgaben, die mit der Führung eines Haushalts einhergingen, stattdessen streifte sie so oft wie möglich mit ihrer Botanisiertrommel durch Felder und Wälder, klaubte vielfüßiges Krabbelgetier aus den Büschen und versank dann in stundenlangem Zerlegen, Zeichnen und Brüten über ihren absonderlichen Schätzen.
    Leah hatte sie noch immer nicht bemerkt. Johanna beschloss, sie in Ruhe zeichnen zu lassen und die Sphinx einmal zu umrunden, bevor sie sich zu der Gruppe um ihren Vater gesellte.
    * * *
    Leah kniff die Augen zusammen und verglich die Skizze mit dem vor ihr liegenden Panorama. Alles war an seinem Platz, die Kamele fügten sich harmonisch ins Bild, und doch war sie unzufrieden. Die Erhabenheit der Pyramiden auf Papier zu bannen, war schwieriger als erwartet. Um die Erinnerung an diesen Tag zu beflügeln, taugte die Zeichnung aber allemal, und für etwas Besseres fehlte ihr momentan die nötige Konzentration. Schon bevor Johanna ihr über die Schulter geschaut hatte, war sie nicht recht bei der Sache gewesen, zu stark zog es sie zu den Bauwerken dort drüben, zu sehr verlangte es sie, mit den Händen über die Steinquader zu tasten, die schiere Größe der Monumente aus nächster Nähe auf sich wirken zu lassen.
    Sie ließ das Zeichenbrett sinken und blickte der älteren Schwester nach, die sich gerade über die letzte Sandverwehung vor der
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