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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Prolog
    D ie uralte Kapelle aus der Zeit Cromwells lag hoch über den Klippen der Felsenküste. Bei Einbruch der Dunkelheit waren über dem Är melkanal dunkle Wolken aufgezogen. Nun trommelte der Regen sein wütendes Stakkato auf das Dach der Kapelle. Und auf der See seite stiegen schäumende Gischt und das Donnern der Brandung aus der pechschwarzen Tiefe herauf.
    Das Licht einer Sturmlaterne tauchte plötzlich auf dem gewunde nen Weg zur Kapelle auf. Wie ein Irrlicht tanzte es durch die regen durchtränkte Dunkelheit. Immer wieder verschwand es für kurze Momente hinter den Stämmen der fast kahlen Bäume, die den Weg hügelauf säumten.
    Es waren zwei Männer, die sich mit dem Sturmlicht der dunklen Kapelle näherten. Einer von ihnen saß in einem Rollstuhl und hielt unter seinem langen schwarzen Regencape eine hölzerne Schatulle auf seinem Schoß fest. Der andere, ein Mann von äußerst hagerer und hochgeschossener Gestalt, an dessen viel zu weitem Umhang der Wind so unbändig zerrte wie ein garstiges Kind am Kleid seiner Mutter, schob ihn vor sich her.
    Als sie die Kapelle erreicht hatten, nahm der Hagere von dem Mann im Rollstuhl einen großen Schlüssel entgegen, trat an die mit Eisen blechstreifen beschlagene Tür des alten Gotteshauses und schloss sie auf. Nicht ein Wort war auf dem Weg zur Kapelle zwischen ihnen gefallen und auch jetzt hüllten sie sich weiterhin in Schweigen.
    Kaum hatte der Hagere die Tür aufgestoßen, als der Mann im Roll stuhl seine Arme unter dem Regencape zum Vorschein brachte, die Schatulle zwischen die Oberschenkel klemmte und sein Gefährt nun selbst in Bewegung setzte. Mit einem kräftigen Stoß überwand er die Türschwelle und rollte durch den Mittelgang auf den Altar zu. Dabei zerrte er sich das triefende Cape vom Leib und warf es achtlos zwischen die Kirchenbänke.
    Der Hagere holte ihn mit raschen Schritten ein, nahm ihm die mit kostbaren Intarsienarbeiten verzierte Holzschatulle ab und stellte sie zusammen mit der Sturmlaterne auf die graue Marmorplatte des Altars. Ihr Licht hob nun einen Teil der dahinter liegenden Nische aus der Dunkelheit.
    In dem gewölbten Halbrund hinter dem Altar hing ein mittelalterli ches Triptychon, dessen Ölfarben im Lauf der Jahrhunderte viel von ihrer einstigen Leuchtkraft verloren hatten. Auch durchzogen zahllo se Risse den aufgetragenen Firnis und an manchen Stellen waren schon fingernagelgroße Stücke der Farbschicht vom Holzunter grund geplatzt.
    Auf den ersten Blick hin schien sich das dreiteilige Tafelbild nicht von unzähligen anderen seiner Art abzuheben. Das Mittelstück des Triptychons zeigte Jesus ganz traditionell am Kreuz, mit Maria und Magdalena zu seinen Füßen. Doch schon das Bild auf dem linken Flü gel hatte nichts mehr mit der üblichen jahrhundertealten Tradition der Kirchenmaler zu schaffen. Denn es zeigte Judas Iskariot, wie er Jesus im Hain des Ölbergs verriet und ihn an die Schergen der Hohe priester auslieferte. Und auch den rechten Flügel hatte der unbe kannte Maler der Figur des Judas Iskariot gewidmet. Hier jedoch sah man ihn mit einer Schlinge um den Hals und mit weit hervorquellen der Zunge vom Ast eines hohen Baumes hängen, während vor dem Stamm dreißig Silberstücke im Gras verstreut lagen.
    Der Mann im Rollstuhl starrte einen langen Augenblick zu dem Flü gelaltar hoch. Dann machte er in Richtung des Hageren eine knappe Handbewegung, mit der er ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er allein zu sein wünschte. Der Hagere leistete dem Befehl unverzüglich Folge, verließ die Kapelle und zog die schwere Bohlentür von außen hinter sich zu.
    Eine ganze Weile verstrich. Dann stemmte sich der Mann aus dem Rollstuhl und trat an den kalten Altarblock. Die Gichtknoten, die sei ne Fingergelenke befallen hatten und die seine Hände mit jedem Jahr mehr verkrüppelten, protestierten gegen die klamme Kälte der Kapelle mit stechenden Schmerzen.
    Er hatte gewusst, dass es so sein würde. Aber das hatte ihn nicht von dem Vorsatz abbringen können, an diesem Ort und nirgendwo sonst letzte Hand an sein Werk zu legen, dem er schon so viel kost bare Lebenszeit gewidmet hatte, ganz zu schweigen von dem vielen Geld, das er in das Unternehmen investiert hatte.
    Hier und nur hier, vor dem alten Flügelaltar, dessen bildliche Dar stellungen der verfemten Figur des Judas Iskariot gewidmet waren, wollte er im wahrsten Sinne des Wortes die letzten Federstriche vor nehmen. Und dann würde er wie ein allmächtiger
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