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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere
Autoren: Rainer M. Schroeder
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den Häschern der Polizei immer wieder entkommen konnten.
    An diesem nasskalten letzten Oktobertag des Jahres 1899 fiel der verfluchte Nebel ungewöhnlich früh am Tag in London ein. Die ersten dichten Schwaden krochen schon wie die Vorhut einer siegessicheren Geisterarmee die Themse stromaufwärts, wogten über die weite Flussschleife bei der Isle of Dogs und griffen nach den Überseekais der Docklands östlich vom Tower, als die schwere Glocke im Uhrturm von Big Ben erst zur vollen dritten Nachmittagsstunde schlug.
    Zur selben Zeit, als sich der dritte Glockenschlag der Turmuhr am Ufer der Themse gegen die lärmende Geschäftigkeit der Innenstadt zu behaupten versuchte, erfuhr der junge Privatgelehrte Byron Bourke in der Anwaltskanzlei von Fitzroy, Bartlett & Sons, die auf der Fleet Street in einem schmalbrüstigen Haus einige lichtarme Räume auf der Hinterhofseite einnahm und schon bessere Tage gesehen hatte, dass er ruiniert war.
    »Seien Sie versichert, Sir, dass es mich überaus schmerzt, Sie von dieser wenig erfreulichen Entwicklung Ihrer Investition in Kenntnis setzen zu müssen, Mister Bourke«, beteuerte James Fitzroy.
    Doch von dem angeblich tief empfundenen Schmerz fand sich we der in der Stimme noch in der Miene des glatzköpfigen Anwalts auch nur die geringste Spur. Trocken und unpersönlich kamen ihm die Worte über die Lippen. Und genauso steif, wie der hohe Hemdkra gen mit der abgescheuerten Oberkante seinen speckigen Hals um schloss, saß er auch hinter seinem Schreibtisch.
    Mit seinen gut sechzig Jahren kam James Fitzroy fast an das Alter des Mobiliars heran, das ihn in seinem Büro und in den anderen Räu men der Kanzlei schon seit Jahrzehnten umgab. Als junger Rechtsan walt, der den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, hatte er diese Möbelstücke aus der Auflösung einer alten, ähnlich unbedeutenden Hinterhofkanzlei erstanden. Es war daher nicht verwunderlich, dass das Gaslicht in seiner milchtrüben Glaskugel an der Wand gerade mal mit halb aufgedrehter Flamme brannte und nur einen gnädig schwachen Schein auf die abgewetzten grünledernen Polstersessel, den fadenscheinigen Perserteppich und den alten Kolonialschreib tisch mit den längst stumpf gewordenen Messingbeschlägen warf.
    Das Kanzleischild Fitzroy, Bartlett & Sons Attorneys at Law, das un
    ten an der Hauswand neben dem Tor zum Treppenaufgang hing, ge hörte auch noch zu jener Zeit, als die Geschäfte besser gelaufen wa ren und es Hoffnung auf einen baldigen Umzug in repräsentativere Räume gegeben hatte. Aber während jener Bartlett, für den das Schild noch immer Werbung machte, die Kanzlei schon vor etlichen Jahren verlassen und James Fitzroy junior einer festen Anstellung bei der renommierten Schiffsversicherung Lloyd’s den Vorzug vor einer Partnerschaft mit seinem Vater gegeben hatte, waren diese nicht ge rade unwesentlichen Veränderungen an der Messingplatte spurlos vorbeigegangen.
    »Weiß Gott, ich wünschte, es hätte einen angenehmeren Anlass ge geben, um Sie auf einen Besuch zu uns in die City zu bitten, Mister Bourke«, fügte der Anwalt noch hinzu. »Aber auch die betrüblichen Obliegenheiten unseres Berufsstandes verdienen sofortige Beach tung und gewissenhafte Erledigung.«
    Ungläubig starrte Byron Bourke den Anwalt an, der schon seinem Vater viele Jahre als Rechtsbeistand und Finanzberater zu Diensten gewesen war und dem deshalb auch er mit blindem Vertrauen die Verwaltung seines ererbten Vermögens überlassen hatte. Trotz sei nes vergleichsweise jugendlichen Alters gehörte er nicht zu jener Sorte Menschen, die schnell die Fassung verloren. Diese Selbstdis ziplin hatte er sich nicht erst in seinen Studienjahren in Oxford ange eignet, sondern sie war schon von Kindesbeinen an wesentlicher Be standteil seiner Erziehung gewesen. Sowohl sein Vater hatte sehr darauf geachtet als auch sein deutscher Fechtlehrer, der ihm im Alter von sechs Jahren seine erste Klinge in die Hand gedrückt und ihn ein gutes Jahrzehnt lang auf oft schmerzhafte Weise gelehrt hatte, auch in ärgster Bedrängnis einen kühlen Kopf zu bewahren.
    Ein wahrer Gentleman geriet niemals wegen Geldproblemen aus der Fassung, sondern zeigte zumindest nach außen hin kühle Gelas senheit. Aber in diesem Moment fiel es Byron Bourke unsäglich schwer, Haltung zu wahren. Dass er von einem Tag auf den anderen alles verloren haben sollte, was sein Vater ihm bei seinem Tod vor sechs Jahren hinterlassen hatte, konnte . . . nein, durfte einfach nicht wahr
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