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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere
Autoren: Rainer M. Schroeder
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mit pro funder Bildung und außergewöhnlichen Fähigkeiten wie Sie wird ge wiss schnell eine ordentlich bezahlte Anstellung finden.«
    Verblüfft sah Byron Bourke ihn an. Seine geistige und finanzielle Unabhängigkeit hatte er bis zu diesem Tag als sein selbstverständli ches Privileg betrachtet. Und er konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemals der Gedanke gekommen wäre, irgendeine Art von Anstellung in Betracht zu ziehen und sich für einen regelmäßigen Wochenlohn in die Abhängigkeit eines wie auch immer gearteten Dienstherrn zu begeben.
    »Nun ja, zwingend ist der Weg in eine Anstellung natürlich nicht«, schränkte James Fitzroy hastig ein, als er den perplexen Ausdruck auf dem Gesicht seines Mandanten sah. »Sind Sie nicht im Frühjahr in die Royal Society of Science aufgenommen worden, und zwar als jüngs tes Mitglied in der Geschichte der Gesellschaft? Natürlich, es stand ja in allen Zeitungen! Und mit dieser Reputation und Ihrer formidablen äußeren Erscheinung sollte sich doch recht bald eine gute Partie aus vermögendem Haus für Sie finden lassen!« Der Anwalt zwinkerte ihm zu, als er noch hinzufügte: »Die Ehe ist längst nicht das bittere Joch, als das es Ihnen erscheinen mag.«
    Byron Bourke öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne dass ihm ein Wort über die Lippen kam. Ihm war, als durchlebte er einen grotesken Albtraum. Und so verhielt es sich ja auch. Nur dass dieser Albtraum Wirklichkeit war und es aus ihm kein rettendes Erwachen geben würde.
    »Zudem bewohnen Sie doch da draußen in Grove Park ein ansehn liches Landhaus, das aber für einen Junggesellen eher eine Bürde als ein Segen sein dürfte! In den Händen eines geschickten Maklers soll te Ihr Anwesen gut und gerne einige Tausend Pfund bringen. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie es auf den Markt bringen wollen.« Mit diesen Worten riss er schwungvoll die knarrende Kanzleitür zum Treppenhaus auf. »Ich werde mich gerne für Sie um einen solventen Käufer bemühen. Aber darüber können wir zu einem späteren Zeit punkt noch eingehender reden. Jetzt möchte ich Sie nicht länger auf halten. Einen guten Tag noch, Mister Bourke! . . . Und meine Empfeh lung an Ihre beiden reizenden Schwestern!«
    Die Kanzleitür fiel hinter Byron Bourke ins Schloss. Wie benom men stieg er die Treppe hinunter und trat Augenblicke später hinaus auf die lärmende Fleet Street.
    Ein dichter Verkehr aus eleganten Einspännern, klobigen Pferdefuhrwerken, vornehmen Equipagen, Reitern und zahlreichen Mietkutschen wogte in beiden Richtungen über die Straße. Und nicht weniger gedrängt ging es auf dem Bürgersteig zu. Eilige Geschäftsleute, livrierte Boten, Zeitungsjungen, Dienstleute und andere Passan ten zwängten sich aneinander vorbei. Es roch nach Tabakrauch, nasser Kleidung, Kohlenfeuern und frischem Pferdedung.
    Byron Bourke winkte die nächste freie Mietkutsche heran, ohne groß darüber nachzudenken, was nun geschehen sollte. Ein Teil sei nes Ichs reagierte so wie immer, wenn er in der City war, während der andere in jenem grässlichen Albtraum gefangen blieb, in den James Fitzroy ihn gestürzt hatte.
    »Zum Athenaeum Club!«, rief er dem Kutscher beim Einsteigen zu. Und obwohl der distinguierte Herrenklub der Gelehrten eine be kannte Londoner Institution war und eigentlich jedem Droschken kutscher geläufig sein musste, fügte er für alle Fälle auch noch die Adresse hinzu. »107 Pall Mall!«
    »Sehr wohl, Sir!«
    Es gehörte zu Byron Bourkes festen Angewohnheiten, seine nicht sehr häufigen Fahrten in die City nach Erledigung aller Geschäfte mit einem Besuch in den ruhigen, gediegenen Räumen seines Klubs ab zuschließen. Dort gönnte er sich dann ausnahmsweise ein, zwei Glä ser einer edlen Whiskymarke, nahm vielleicht auch eine kleine Mahl zeit im Restaurant ein und plauderte ein wenig mit den anderen ge lehrten Mitgliedern, bevor er sich zur Charing Cross Station bringen ließ und mit einem Zug der South Eastern Railway die Heimfahrt nach Grove Park antrat, das nur wenige Meilen südöstlich von London lag.
    An diesem Nachmittag war ihm jedoch weder nach Essen noch nach gelehrten Diskursen zumute, dafür umso mehr nach einem starken Drink!
    Dass der Totalverlust seiner Beteiligung an der Minengesellschaft eine finanzielle Katastrophe war, hatte er schon in der Kanzlei begriffen. Doch erst auf der Fahrt von der Fleet Street nach Pall Mall kam ihm so richtig zu Bewusstsein, welch erschreckende und weitreichende Auswirkungen diese
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