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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Marionettenspie ler die Lebensfäden jener vier Personen in den Händen halten und ih re weitere Zukunft bestimmen, auf die seine Wahl gefallen war!
    Er hauchte kurz in seine Hände, um sie etwas anzuwärmen. Dann öffnete er die mit rotem Samt ausgeschlagene Schatulle, die in ver schieden große Fächer unterteilt war. Er entnahm ihr vier Briefum schläge und vier Briefbögen aus edelstem Büttenpapier sowie eine Fünfzig-Pfund-Banknote und einen vergilbten Zeitungsartikel, der vor acht Jahren in der Times erschienen war. Umschläge und Briefbögen breitete er zu einem papierenen Fächer vor sich auf der kalten Mar morplatte aus, wobei er unter jeden schon mit burgunderroter Tinte beschriebenen Briefbogen einen noch unadressierten Umschlag legte.
    Anschließend holte er aus der Schatulle ein Feuerzeug, eine rot braune Stange Siegellack sowie ein Tintenfass aus schwerem Blei kristall mit Messingdeckel und eine altmodische Schreibfeder. Er hätte einen seiner modernen Füllfederhalter mitbringen können, aber in seinen Augen wurde der Schriftzug aus einer altmodischen kratzigen Feder dem weltumstürzenden Ereignis, um das es hier ging, entschieden besser gerecht.
    Mit geradezu lustvoller Langsamkeit tauchte er die Feder in die blutdunkle Tinte, zog den ersten Umschlag zu sich heran und be gann, mit steiler, ruckartiger Handschrift den ersten der vier Namen auf das Büttenpapier zu schreiben:
    Byron Bourke, Esquire
    Wenig später trugen alle vier Umschläge den ihnen zugedachten Na men. Als die Tinte auf ihnen getrocknet war, faltete er die schon be schriebenen Briefbögen und ordnete sie den entsprechenden Adressaten zu. In einen der vier Umschläge steckte er zudem noch die Fünfzig-Pfund-Note, in einen anderen den vergilbten Zeitungs ausschnitt. Dann griff er zu Feuerzeug und Siegellack. Wie dickflüssi ges Blut tropfte der Lack auf das schwere Büttenpapier. Bevor es erkalten und erstarren konnte, ballte er die rechte Hand zur Faust und presste seinen Siegelring in die weiche Masse.
    Wilde Erregung packte ihn, als ihm bewusst wurde, dass mit dem letzten Siegeldruck alle Vorbereitungen abgeschlossen waren. Die qualvoll lange Zeit des Grübelns, Pläneschmiedens und Wartens hat te ein Ende! Das Netz, an dem er so lange fein gesponnen hatte, war ausgeworfen und trieb den vier Ahnungslosen schon entgegen und nun lagen auch die Köder bereit, um ausgebracht zu werden und ih re Wirkung zu entfalten, auf dass er das Netz nur noch zuzuziehen brauchte!
    Morgen begann es! Morgen würde sich das feine Räderwerk unwi derruflich in Gang setzen!
    Mit einem leisen Auflachen räumte er nun alles wieder in die Scha tulle. Doch als er das Tintenfass in der Hand hielt und es gerade wie der in sein genau abgemessenes Fach stellen wollte, zögerte er. Sein Kopf ruckte hoch und sein Blick richtete sich auf das Mittelstück des Tafelbildes.
    Einen Moment stand er reglos da und starrte auf die Kreuzigungs szene. Dann fuhr seine rechte Hand mit einem Ruck zurück, holte aus und schleuderte das Tintenfass mit aller Wucht gegen das drei geteilte Bild.
    Das Geschoss aus Bleikristall zersplitterte knapp über dem Dor nenkranz des Gekreuzigten. Und während die Glassplitter nach allen Seiten wegflogen, ergoss sich die burgunderrote Tinte über Jesu Haupt und floss wie eine Woge dunklen Blutes über dessen gequäl ten nackten Körper.
    Die Tinte tropfte noch immer vom Flügelaltar, als die Kapelle längst wieder in kalte menschenleere Dunkelheit versunken war.

Erster Teil
    London

1
    Ü ber den Dächern Londons waberte der rußerfüllte Rauch, den Hunderttausende Schornsteine in den Himmel spuckten. Erdrü ckend tief und wie ein dreckiger Putzlappen hing die Wolkendecke über der Stadt. Der kraftlose Nordostwind war dem Qualm der Koh lenfeuer, der aus dem Meer ziegelbrauner Kamine quoll, nicht ge wachsen und konnte nur wenig davon mit sich forttragen. Der meis te Rauch hielt sich beharrlich über den Dächern und trieb durch die Häuserschluchten. Geduldig wartete er, dass sich über den dunklen Fluten der Themse der Abendnebel sammelte und in die Stadt wall te. Und wenn diese Stunde gekommen war, verband sich der rußig gelbe Kaminrauch mit dem milchig grauen Dunst zu jener gefürchte ten Londoner Nebelsuppe, in welcher selbst alteingesessene Bürger in ihrem vertrauten Wohnviertel die Orientierung verloren und zu furchtsam Herumirrenden wurden und in deren Schutz ruchlose Ver brecher wie etwa der vielfache Dirnenmörder »Jack the Ripper«
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