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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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Ligasöldner trog. Die vier würden sie auf der Stelle töten, falls sie die Brücke zu schnell oder auch zu langsam überquerte. Laufschritt war auf der Karlsbrücke seit Beginn der Besatzung verboten, ebenso Stehenbleiben. Jeder, der von einer Seite der Moldau auf die andere wechseln wollte, mußte dies unter zügigem Gehen tun auf alles andere stand die Todesstrafe. Sarai wußte nicht, welchen Sinn diese Auflage haben sollte, außer jenem, die geknechtete Bevölkerung Prags noch tiefer zu erniedrigen. Als sei das Plündern und Morden, das Brandschatzen und Vergewaltigen nicht schlimm genug.
    Doch das neue Gesetz der Brücke, dem einzigen Flußübergang weit und breit, war nur eine von hunderten
    Schikanen. Die Machthaber der Katholischen Liga und des Kaisers schienen sich einen Spaß daraus zu machen, täglich neue Strafen und Vergehen zu ersinnen. Daheim im jüdischen Viertel hatte Sarai flüstern hören, Ligasöldner härten erst gestern, einen Tag nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg, zwei Dutzend Prager Würdenträger entsetzlich gefoltert: Erst mußten die Unglücklichen ihre Arme in kochendes Wasser tauchen, dann in die Eisfluten der Moldau; danach war ihnen das tote Fleisch von den Knochen geglitten wie Handschuhe, die ihnen plötzlich zu groß waren.
    Der Novemberwind wehte kalt vom Fluß herauf, strich zischend über die Brüstung und schnitt durch Sarais Wams und Hose wie tausend winzige Glassplitter. Sie fror entsetzlich, trotz des Umhangs, den Cassius ihr mitgegeben hatte.
    Noch achtzig Schritte.
    Ohne innezuhalten schaute Sarai sich um. Die Morgensonne erhob sich im Osten knapp über dem Altstädter Brückenturm und spiegelte sich vielfach auf dem Gold der Dächer. Um jene Zeit des Tages und bei klarem Himmel sah es aus, als sei ganz Prag zu Bernstein erstarrt. Das goldene Funkeln und Glitzern der Giebel machte selbst die Rauchfahnen der gebrandschatzten
    Häuser für einen Augenblick unsichtbar. Kein Schrecken, der diesen Zauber zu zerstören vermochte.
    Einer Spiegelung auf einem der goldenen Turmdächer war es zu verdanken, daß sich die Schatten der Gepfählten berührten. Das Sonnenlicht und die Goldspiegelung Sarai hatte noch immer nicht ausmachen können, von welchem Dach sie kam schenkten jedem der Toten zwei Schatten, deren innere sich überschnitten. Dort, wo sie sich kreuzten, so harte Cassius ihr aufgetragen, sollte Sarai sich bücken und eine Handvoll Staub aufheben. Unauffällig, damit die Wächter es nicht bemerkten. Denn der Staub aus dem Schatten eines Toten besaß, laut Cassius, magische Kräfte.
    Nun, dachte Sarai verbittert, der Alchimist hatte gut reden. Er saß oben im Mihulka-Turm auf dem Hradschin und erwartete ihre Ankunft. Cassius lebte seit Jahrzehnten auf der Prager Burg, schon zu Regierungszeiten des alten Kaisers Rudolf. Nicht einmal die Truppen der Katholischen Liga hatten daran etwas ändern können.
    Vielleicht hatten sie schlichtweg anderes zu tun, als einen greisen Mystiker aus einem abgelegenen Turm des Hradschin zu vertreiben. Sie waren vollauf damit beschäftigt, die Judenstadt und die anderen Viertel Prags zu plündern und alle Aufrührer dingfest zu machen.
    Die Herren der Liga hatten alle äußeren Tore Prags verriegeln lassen, hatten sich und ihre Söldnerhorden mit in der siechenden Stadt eingeschlossen. Ohne Passierschein kam niemand herein und heraus. Ausnahmen gab es nicht. Mindestens eine Woche lang, so die düsteren Vorhersagen jener, die es wissen mochten, würden die Tore verschlossen bleiben. So lange war man den Ligasöldnern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    Noch fünfzig Schritte.
    Sarai kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, ob sich die Schatten der Gepfählten noch berührten. Ja, es sah ganz so aus. Fraglich war, wie lange noch.
    Sollte der Versuch fehlschlagen, würde Cassius auf seinen Staub verzichten müssen. Nur am Sabbat entfalten die Toten ihre volle Macht, hatte der Alte gesagt. Sabbat war heute, und wer konnte wissen, ob die Gepfäh l ten in einer Woche noch an diesem Platz stehen würden.
    Die beiden Hingerichteten waren Heerführer des gestürzten Gegenkönigs Friedrich gewesen. Ligasöldner hatten sie gleich nach der Schlacht vor zwei Tagen lebendig auf Holzspieße gesteckt und auf der Karlsbrücke aufgepflanzt. Die ganze Nacht hindurch hatten ihre gequälten Schreie die Bewohner der Kleineren Stadt um den Schlaf gebracht. Erst am Morgen waren sie endlich verstummt.
    Noch zwanzig Schritte.
    Der Drang,
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