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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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führte. Sie ahnte, daß sie soweit nicht mehr kommen würde.
    Mit bebenden Fingern zog sie ein kleines Ledersäckchen aus ihrem Hosenbund. Zitternd und ohne anzuhalten füllte sie den Staub hinein, den ihre feuchte Hand zu Klumpen gepreßt hatte. Fast die Hälfte ging dabei verloren. Gleichgültig. Cassius sollte zufrieden sein, wenn sie überhaupt lebend zurückkehrte, mit viel oder wenig oder gar keinem Staub.
    Sie verschloß das Säckchen und stopfte es zurück in ihre Hose. Noch immer wa gte sie nicht, sich umzuschau en. Sie wünschte sich, daß ihre Verfolger sie ansprechen oder miteinander flüstern würden, doch statt dessen
    schwiegen sie nur. Die stumme Bedrohung verunsicherte Sarai viel stärker als jeder Zuruf, jede Zote.
    Aus dem Schatten des Torbogens trat sie ans Licht. Damit hatte sie die Brücke verlassen.
    Sarai stürmte los. Die Anspannung fiel keineswegs von ihr ab, und doch verspürte sie eine gewisse Befreiung, als sie endlich wieder laufen konnte, so schnell sie wollte. Und so schnell sie konnte denn die Söldner waren direkt hinter ihr.
    Sie rannte die Mosteckä hinab, die Straße zum Ring. Eine Handvoll Männer und Frauen, die sich trotz der plündernden Söldnerhorden hinaus auf die Straße gewagt hatten, sprangen ängstlich auseinander. Von ihnen konnte Sarai keine Hilfe erwarten. In einer geschlagenen Stadt wie Prag rettete ein jeder nur die eigene Haut. Sarai dankte dem Herrn, daß er ihr eingegeben hatte, wenigstens das Judenzeichen abzunehmen. Hätten die Menschen sie als Jüdin erkannt, wer weiß, der eine oder andere hätte sie vielleicht sogar aufgehalten und den Söldnern ausgeliefert.
    So aber erreichte sie ungehindert den Platz, in dessen Mitte sich der spitze Turm einer Kirche erhob. Rundherum standen eng gedrängt ein paar schmuckvolle Häuser, manche älter, andere erst vor wenigen Jahren errichtet. Sie hielten keinem Vergleich mit den Prachtbauten am anderen Ufer stand, doch auch in der Kleineren Stadt gab es eine Reihe reicher Kaufleute, die sich aufwendige Quartiere leisten konnten.
    Sarai war klar, daß sie die beiden Söldner abhängen mußte, ehe sie hinauf zum Hradschin stieg. Um zum Mihulka-Turm und zu Cassius zu gelangen, mußte sie sich unauffällig durch die Schloßgärten schlagen, denn eigentlich war ihr der Eintritt zur Burg verwehrt. Sie hatte gewußt, worauf sie sich einließ, als sie sich bereit erklärte, Cassius hin und wieder einen Dienst zu erweisen, im Austausch gegen Nahrung für sie und ihren Vater. Zuletzt aber hatte Cassius selbst kaum noch etwas gehabt, denn die Alchimie war seit der Abdankung Kaiser Rudolfs auf der Burg in Verruf geraten. Alle anderen Mystiker und Alchimisten hatten den Turm und die Stadt verlassen, nur Cassius blieb allein zurück. Statt mit Essen mußte Sarai sich nun immer öfter mit Wissen zufriedengeben, denn der alte Alchimist hatte sie zu seiner Schülerin erkoren, auch wenn er dergleichen nie aussprach. Sarai war das recht, sie hatte ohnehin nichts Besseres zu tun und war froh, tagsüber von ihrem Vater loszukommen. Seit ihre Mutter getötet worden war, hatte er sich verändert.
    Sarai wandte im Laufen den Kopf und schaute nach hinten. Die beiden Söldner waren dicht hinter ihr, schienen aber nicht schneller laufen zu können als sie selbst. Gut, dann gab es vielleicht doch noch eine Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Zumal sie sich besser in der Kleineren Stadt auskannte als die fremden Soldaten, die aus Bayern oder von noch weiter her nach Böhmen gekommen waren.
    Rund um die Kirche hatten einige Händler gewagt, ihre Stände aufzuschlagen. Der Anblick der Kaufleute inmitten einer Stadt, die an zahllosen Stellen in Flammen stand und bis aufs letzte ausgeraubt wurde, schien Sarai so unwirklich, daß sie beinahe stehengeblieben wäre.
    Natürlich tat sie es nicht. Atemlos bog sie in einen schmalen Einschnitt zwischen zwei Häusern, übersät mit Schmutz und Unrat. Erst nach einigen Schritten sah sie, daß die rechte Hauswand mit zahlreichen Balken abgestützt war, die schrägstehend ihren Weg versperrten. Soviel zu ihrer Vertrautheit mit der Kleineren Stadt! Sarai wollte fluchen, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Sie wußte nicht, ob es Furcht oder Erschöpfung war, die ihr die S timme nahm.
    Gehetzt blieb sie stehen und sah sich um. Sie erkannte sogleich, daß es keinen Sinn hatte, zurückzulaufen. Die beiden Söldner hatten die schmale Gasse längst betreten. Die Kluft zwischen den Häuserwänden war so eng, daß die
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