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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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schneller zu gehen, war unerbittlich. Sarai hatte alle Mühe, ihre Beine ruhig zu halten. Sie durfte nicht laufen.
    Die meisten Einwohner Prags mieden es in diesen Tagen, den Fluß zu überqueren. Auf der Brücke gab es keine Möglichkeit zur Flucht, beide Seiten wurden bewacht. Sollten es die Söldner auf ihr Vergnügen abgesehen haben, war es ohnehin um Sarai geschehen: Sie war sechzehn, und selbst der Schmutz auf ihren Zügen konnte nicht verbergen, wie hübsch sie war. Hübsch genug, daß die Männer es als Einladung verstehen mochten, trotz der alten Lumpen, die sie trug.
    Zehn Schritte.
    Die beiden westlichen Brückentürme, gotische Monumente aus grauem Stein, nahmen jetzt ihr gesamtes Blickfeld ein. Dahinter verschwand selbst der Hradschin, die Prager Burg auf ihrem alles überschauenden Bergrücken.
    Die Soldaten starrten sie eingehend an, musterten sie von oben bis unten. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern stand in finsterem Widerspruch zu der fröhlichen Farbenpracht ihrer Kleidung. Alle vier waren mit schmalen Schwertern bewaffnet, zwei von ihnen hatten blankgezogen. Die anderen legten ihre Hände drohend auf armlange Hakenbüchsen. Beide Schußwaffen waren wegen ihres Gewichts und des starken Rückstoßes auf hölzernen Böcken verankert.
    Sarai spürte, wie der Schweiß über ihre Stirn lief, trotz der Kälte. Er brannte in ihren Augen, aber sie wagte nicht, die Hand zu heben, um ihn fortzuwischen, aus Angst, die Männer könnten die Bewegung missverstehen . Sie spürte ihre Füße kaum noch. Irgendwann war ihr, als schwebe sie, als sei der Boden gänzlich unter ihr verschwunden. Mühsam hielt sie ihren Blick auf die gekreuzten Schatten gerichtet.
    Einer der Männer flüsterte einem anderen etwas zu, doch sie verstand keines seiner Worte. Sie konnte jetzt die beiden Toten riechen, einen schweren, fauligen Odem, der wie Nebel durch die klare Herbstluft trieb. Sarai hatte das Abzeichen der böhmischen Juden, ein gelber aufgenähter Kreis, wohlweislich von ihrem Wams entfernt. Unter anderen Umständen hätte dieses Vergehen eine schwere Strafe nach sich gezogen, doch sie glaubte nicht, daß es in diesen Tagen irgendwem auffallen würde.
    Nur noch zwei Schritte, dann hatte sie die gekreuzten Schatten erreicht. Sarai schloß die Augen und taumelte. Sie gab vor zu stolpern, ihr rechtes Bein knickte ein, dann das linke. Mit einem Keuchen schlug sie auf den Boden, stützte sich auf, krallte ihre Hand in den Schmutz und sprang noch in derselben Bewegung wieder auf. Dann ging sie benommen weiter, ganz so, als sei nichts geschehen. In ihrer rechten Faust hielt sie den Staub aus dem Schatten der Toten.
    Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie die beiden Schwertträger vortraten, dann war sie an ihnen vorüber. Sarai ging einfach weiter und verlor die Söldner aus ihrem Blick. Die Männer waren jetzt hinter ihr, und doch wagte sie nicht, sich umzuschauen. Sie konnte nicht mehr sehen, was sie taten, und doch spürte sie ihre Gegenwart in ihrem Rücken wie etwas, das von hinten gegen ihre Schultern drückte und sie vorwärtstrieb. Das Schlimmste war, daß sie laufen wollte, rennen, so schnell sie nur konnte, doch das war unmöglich. Noch war sie nicht am Ende der Brücke. Erst mußte sie durch das Tor zwischen den Türmen hindurch, dann erst verlor das Verbot seine Geltung. Sie spürte förmlich, wie die Söldner darauf warteten, daß sie losrannte. Das Stolpern mochte als Mißgeschick gelten, nicht als vorsätzliches Stehenbleiben. Würde sie aber laufen, war es um sie geschehen.
    Sarai hörte Schritte hinter sich. Die beiden Söldner folgten ihr. Die harten Sohlen ihrer Stulpenstiefel dröhnten über das schmutzige Pflaster. Sie konnten nicht mehr weit von ihr sein, höchstens eine Mannslänge. Aber noch riefen die Kerle sie nicht an, noch verlangten sie nicht, daß sie stehenblieb.
    Sarai trat durch das Brückentor. Es war breit, fast ein Tunnel. Ihre Schritte und die ihrer Verfolger hallten hohl unter der Gewölbedecke wider. Am anderen Ende führte die Straße seicht bergab zum Mittelpunkt der Kleineren Stadt so nannten die Bewohner diesen Teil Prags. Im Schatten einer düsteren Kirche erhob sich dort eine Handvoll Herrschaftshäuser, umgeben von einem Gewirr aus Gassen, drei und vierstöckigen Wohnhäusern und einem Labyrinth miteinander verbundener Hinterhöfe. Vom Platz an der Kirche aus mußte Sarai den Weg zur Neuen Schloßstiege einschlagen, einer schier endlosen, steilen Treppe, die hinauf zum Hradschin
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