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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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PROLOG
    Prag, im November 1620
    Der Mann Josef blickte aus der Dachluke der Altneu-Synagoge über die Giebel der Judenstadt und wartete, daß der Vogel Koreh zu ihm sprach. Der Mann Josef lauschte oft auf seine Stimme. Es war die einzige, die er zu hören vermochte.
    Der Mann Josef trauerte. Er wünschte sich, es wäre nicht an ihm, die Stimme des Vogels Koreh zu vernehmen. Kaum ein anderer besaß diese Gabe, erlitt diesen Fluch.
    Er versuchte, sich abzulenken, und gab den Zahlen Farben. Wenn er die Augen schloß und sich die Ziffer Eins vorstellte, dann sah er sie in grellem, makellosem Weiß, Die Zwei war gelb, die Drei orange. Die Vier dagegen schwieriger: Mal war sie grün, mal dunkelblau. Nicht so die Fünf, ein Kinderspiel: Er sah sie rot, ganz blutig rot. Die Sechs war blau, die Sieben grün. Die Acht war braun, die Neun pechschwarz, die Zehn mal weiß, mal neblig grau. Alle höheren Zahlen hatten keine Farben, sie waren nur fahle Schemen wie Morgendunst, ganz unbedeutend.
    Der Vogel Koreh da, jetzt kam er. Er hörte ihn. Einst lebte der Vogel Koreh an den Ufern der fernen Judenländer, und er legte viele Eier. Doch bei aller Fruchtbarkeit war er ein ängstliches Tier, denn er fürchtete nichts mehr, als daß eines Tages jemand sein Nest und all seine Eier zerstören könnte. Deshalb erhob er sich hoch in die Luft und kreiste über den Bergen und Ebenen, bis er viele Nester anderer Vögel entdeckt hatte, in denen er seine eigenen Eier verstecken konnte glaubte er doch, seine Kinder seien so sicher und geschützt denn niemand würde alle Vogelnester der Welt zerschlagen. So wartete der Vogel Koreh eine günstige Gelegenheit ab, bis die Bewohner der anderen Nester für kurze Zeit unachtsam waren; dann schoß er geschwind
    heran und legte je eines seiner Eier unter die der fremden Vögel. So kam es, daß bald schon in jedem Nest der Welt ein Ei des Vogels Koreh reifte, ohne daß Tier oder Mensch es bemerkten. Schließlich schlüpften seine Kinder aus, wuchsen heran und wurden klug und kräftig wie er selbst. Des Nachts, wenn alle anderen schliefen, schwebte der Vogel Koreh über den weiten Ländern einher und rief seine Kinder herbei. Sie hörten ihn, spreizten ihre Schwingen und folgten ihm gen Himmel. Die anderen Vögel aber konnten seine Stimme nicht hören, sie schliefen ruhig und ungestört.
    So war es bis zum heutigen Tag. Der Vogel Koreh schwebte über der Welt, und er sah und hörte vieles auf seinen Wegen, doch nur wenige konnten seine Botschaft verstehen. Der Mann Josef aber wußte, wie er den Erzählungen des Vogels zu lauschen hatte, und so horchte er geduldig, und er erfuhr, was unter ihm in der Judenstadt vorging Was er hörte, machte ihm Angst . Es war wieder geschehen. Der Schattenesser war unter den Menschen, und er hatte neue Opfer gefunden.
    Der Mann Josef war hilflos. Dabei wäre es seine Aufgabe gewesen, zu helfen. Zum Helfen hatte man ihn gemacht.
    Er schloß die Dachluke über seinem Kopf und stieg die Leiter hinab. Er spürte den Schattenesser in den Gassen, hörte das Trauerlied des Vogels Koreh und schlug die Hände vor die Ohren. Es brachte keine Linderung. Er hätte gerne geweint, aber das vermochte er nicht. So fiel er auf die Knie, beklagte lautlos sein Schicksal und wand sich ob seiner Machtlosigkeit am Boden. Die Schatten waren in Aufruhr, und sie hatten allen Grund dazu.

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KAPITEL 1
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    Als die beiden Schatten der Gepfählten zu einem einzigen verschmolzen, beschleunigte Sarai noch einmal ihre Schritte. Die Männer steckten aufrecht auf hölzernen Spießen, aufgepflanzt wie ein Paar sonderbarer Bäume rechts und links der Karlsbrücke, kurz vor den westlichen Brückentürmen. Sarai mußte schneller gehen, wenn sie die Stelle, an der sich die Schatten der Toten kreuzten, rechtzeitig erreichen wollte. Die Schwierigkeit dabei: Sobald sie schneller ging, würde sie sterben.
    Sie hatte rund zwei Drittel der Brücke überquert, aber noch immer lagen zwischen ihr und den Gepfählten hundertfünfzig Schritte. Mindestens. Die vier Wachtposten der Liga standen am Fuß der Spieße und starrten ihr entgegen. Die Söldner trugen das übliche Geckenkostüm der Landsknechte: federgeschmückte Barette über bärtigen Gesichtern, farbig gestreifte Pluderhosen und bunte Wämser mit geschlitzten Ärmeln. Jeder besaß einen Hosenlatz aus hartem Leder, eingenäht und ausgebeult, mit dem er sich den Anschein größerer Männlichkeit verleihen wollte.
    Sarai wußte, daß der alberne Anblick der
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