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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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den Toren der Burg abzufangen. Daran hatte sich auch nach der Besatzung durch die Liga nichts geändert. Freilich ahnten die neuen Machthaber nichts vom versteckten Zugang des Alchimisten, und das kam Sarai nun zugute.
    Im Garten war sie mehr Wachen als üblich begegnet, doch die Söldner gaben sich keine Mühe, ihre Unlust zu verbergen. Sie zogen es vor, sich in kleinen Gruppen unter Bäumen zu treffen und dem Würfelspiel zu frönen.
    Viel lieber wären sie mit ihren Kameraden plündernd durch die Stadt gezogen, als hier oben die Tulpen in ihren Gewächshäusern zu bewachen.
    Für Sarai waren die Soldaten kein Hindernis gewesen, obgleich ihr Herz noch immer schneller schlug als üblich, und die Aufregung sie zu Leichtsinn verleiten wollte. Schwierig war es vor allem, das Ei unbeschädigt über die Mauer und durch die Gärten zu tragen, doch selbst das gelang ihr unter Mühen.
    So betrat sie schließlich den Turm durch den verborgenen Einstieg und eilte die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk. Als sie die letzten Stufen erklomm, schallte ihr das Krächzen von Cassius altem Papagei entgegen:
    »Cassius! Cassius! Der Teufel kommt, dich zu holen!«
    Diese Worte kreischte der Vogel bei jedem der seltenen Besucher, egal, um wen es sich handelte. Sein Name war Saxonius, benannt nach einem Vorfahren oder auch Vorbild des Alchimisten - Sarai wußte es nicht so genau.
    »Ah ja«, sagte Cassius lächelnd, als er das Mädchen erkannte, »ein prächtiger Teufel, in der Tat. Mit einem wahrlich bezaubernden Naschen.«
    Cassius sagte oft solche Dinge, und sie nahm sie nicht ernst.
    »Sieh her, was ich habe«, rief sie und stürmte auf ihn zu. »Ist es dir gelungen?« fragte er aufgeregt. Dann sah er das Ei in Sarais Händen. »Wo hast du ihn? Sag mir, wo ist er?«
    Sie blieb dicht vor ihm stehen. »Der Staub? Nun ...«, stammelte sie verlegen, »...ich hatte ihn, wirklich, aber er ging mir verloren.«
    Die Enttäuschung des Alten war nicht zu übersehen. Die Falten in seinem Gesicht sahen aus wie mit scharfer Klinge gezogen, das Werk eines Schnitzers, der die rauhe Rinde seines Holzes zum Wesen seines Kunstwerks machte, ihr grobes Muster gar vertiefte. Wenn Cassius lächelte, wanderten die Klüfte in seinen Zügen bis hinauf zur Stirn, ein stetiger Akt der Veränderung, dem allein seine grauen Augen widerstanden. Sie bildeten die ruhenden Pole in seinem aufgewühlten Antlitz und blitzten wach, beinahe jugendlich zwischen den Falten und dem schlohweißen Haarwust hervor. Die dünnen Strähnen fielen ihm oft ins Gesicht, als schämten sie sich dafür, ein wallender Vorhang aus Spinnengarn.
    Cassius trug ein weites, vielfarbiges Gewand, wie es einem wahren Mystiker anstand. Sarai machte oft die eine oder andere spitze Bemerkung über seine Art, sich zu kleiden, doch Cassius bestand darauf, daß es nur aus Bequemlichkeit geschah, nicht weil er den Traditionen bunter Jahrmarktsträume nachhing. Sie war trotzdem nicht sicher, ob er ganz frei war von solcherlei Eitelkeiten. Gewiß jedoch war es an der Zeit, das Gewand zu erneuern; die Farben verblassten allmählich unter der Last der Jahre.
    Die Enttäuschung des Alchimisten wandelte sich schlagartig in ungläubiges Staunen. »Du hattest den Staub und hast ihn verloren? Das ist nicht dein Ernst, mein liebes Kind.«
    Oh, oh, dachte sie. Liebes Kind nannte er sie nur, wenn er unzufrieden mit ihr war. Tatsächlich hatte er ja allen Grund dazu.
    Sie setzte zu einer Entschuldigung an - hatte sie das überhaupt nötig? -, doch Cassius kam ihr zuvor:
    »Du verlierst den Totenstaub und bringst mir statt dessen ein ... Ei?« Er schlug beide Hände vors Gesicht und ging jammervoll in der Turmkammer auf und ab.
    Saxonius kreischte vergnügt: »Der Teufel kommt, dich zu holen. Er kommt, er kommt! Der Teufel kommt!«
    »Schweig still!« rief Cassius erregt, und der Vogel verstummte tatsächlich. Im allgemeinen war es ein behäbiges Tier, das nur den eigenen Lärm genoß. Jeder andere Laut brachte Saxonius augenblicklich zur Ruhe. Er war ebenso alt wie Cassius, wenn nicht gar älter, und er hatte sie alle kommen und gehen sehen: die mächtigen Alchimisten und Magier, die Scharlatane und wahren Weisen, sie alle, die Kaiser Rudolf einst im Mihulka-Turm versammelt hatte.
    Cassius hielt schließlich inne und stützte sich müde auf einen Tisch voll mit Büchern und Glaskolben. Viele der Gefäße waren leer, andere mit bunten Mixturen gefüllt. Auf einem zweiten Tisch - es gab mehr als ein halbes Dutzend
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