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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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    Sie blieb den Tag über bei Cassius und dachte über den Sinn seiner Worte nach. Der Alte entfernte die Splitter aus ihren Händen und verzichtete ihr zuliebe auf die Lektüre seiner dickleibigen Bücher, die er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Statt dessen bat er sie, ihm bei einigen Versuchen behilflich zu sein. Versuche - das bedeutete meist, daß er allerlei Tinkturen und Flüssigkeiten miteinander vermischte, das Ganze über heißer Flamme erhitzte und abwartete, was geschah. Die Ergebnisse waren in der Vergangenheit vielgestaltig gewesen. Es hatte brodelnde Feuerbälle gegeben, die ihnen die Brauen versengten; manchmal waren Cassius' Mischungen in alle Richtungen gespritzt und hatten sie mitstinkendem Sud überzogen, dessen Geruch tagelang haften blieb; und gelegentlich war schlichtweg überhaupt nichts geschehen, was den Alchimisten zu grollendem Zorn oder brütendem Schweigen veranlaßt hatte.
    Die Versuche, die er an diesem Sabbat vollführte, ähnelten jenen an früheren Tagen, wenngleich er und Sarai von üblem Gestank und feurigen Eruptionen verschont blieben. Zwischendurch erklärte Cassius ihr immer wieder das eine oder andere über seine Mixturen, Versuchsanordnungen und erhofften Ergebnisse, und sie gab sich Mühe, jede Einzelheit im Kopf zu behalten. Mochte der Himmel wissen, welchen Nutzen es einmal haben mochte.
    Das Ei des Hühnerweibs blieb während des Tages achtlos auf einem der Tische liegen, und schließlich vergaß Sarai völlig, daß es überhaupt da war.
    Am frühen Abend verließ sie den Turm durch die geheime Öffnung, schlich durch die Gärten zur Südseite der Burg und kletterte über die Mauer hinweg. Sie lief die Neue Schloßstiege hinunter, rannte quer durch die Kleinere Stadt und erschrak vor jedem Schatten und jedem Soldaten, den sie aus der Ferne sah. Sarai wußte, daß auf der Karlsbrücke andere Männer als am Morgenstehen würden, die Gefahr war also nicht größer als sonst. Sie fragte sich, ob man den toten Söldner schon entdeckt hatte.
    Als sie sich den Brückentürmen näherte, spürte sie schon, wie sich ihr Körper verkrampfte. Obgleich sie sich einredete, keine Angst vor den Wachtposten haben zu müssen, spürte sie doch, wie ihre Furcht immer größer wurde.
    Doch die Ligasöldner ließen sie anstandslos passieren. Kurz nachdem Sarai das östliche Ufer erreicht hatte, ging die Sonne hinter den Dächern des Hradschin unter, und die Wächter kreuzten ihre Spieße. Nach Anbruch der Dunkelheit wurde der Übergang über die Moldaugesperrt. Sarai war eine der letzten, die es noch rechtzeitig schafften.
    Sie eilte durch das enge, verwinkelte Labyrinth der alten Straßenzüge und schlich in den frühen Abendschatten am Rathaus vorbei über den Altstädter Ring. Überallwaren Söldner, die meisten betrunken und randalierend. Immer wieder wich sie in Hauseingänge und Durchfahrten zurück, um Patrouillen und einzelnen Soldaten aus dem Wege zu gehen. Ihr war klar, daß sich die Ereignisse vom Morgen jederzeit wiederholen konnten, und diesmal würde sie fraglos weniger Glück haben. Tatsächlich war es in der Dämmerung weit gefährlicher, wenn die meisten Söldner reichlich Bier und Wein zugesprochen hatten. Sie verfluchte sich selbst dafür, daß sie Cassius nicht früher verlassen hatte. Es war einfach zu gewagt, in dieser Zeit durch die Straßen zu laufen.
    Am Eingang zur Judenstadt, einem düsteren, engbebauten Viertel im Herzen Prags, blieb sie einen Augenblick stehen. Es gab mehrere Tore, die hineinführten, und zu Friedenszeiten hatte man sie zeitweise bewacht. Seit der Besatzung aber standen die Tore offen, und die freiwilligen Wächter waren bei ihren Familien. Die Vorstellung, wie einfach es jetzt für die Christen der umliegenden Viertel wäre, in die Judenstadt einzufallen, erschreckte Sarai. Aber natürlich hatten auch sie andere Sorgen, als ausgerechnet in diesen Tagen ein neuerliches Pogrom anzuzetteln. Jeder Einwohner Prags lebte nur noch in stetiger Furcht vor den neuen Machthabe n der Liga, ganz gleich ob Jude oder Christ. Die alte Fehde und der Blutzoll, den sie über die Jahrhunderte gefordert hatte, waren vorerst - nein, nicht vergessen, aber verdrängt.
    Sarai lief durchs Tor, während der Himmel immer dunkler wurde. Die Nacht stand kurz bevor. Die schmale Straße, in der Sarai mit ihrem Vater lebte, lag dunkel im dräuenden Massiv übervölkerter Wohnhäuser. Das Pflaster war voller Schlamm und Unrat, unter den Fenstern verfaulten die
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