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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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floß die Wärme durch ihren Körper. Der Schmerz ihrer Verstümmlung ließ nach, schlagartig. Sie spürte ihn noch, empfand ihn aber nicht mehr als unangenehm. Ein merkwürdiges Kribbeln erfüllte sie vom Kopf bis zu den Zehen. Sie hatte keine Angst. Wovor auch? Sie fragte sich, ob dies der Zustand war, den Nadeltanz erreicht hatte. Nadeltanz, der Ohne-Angst-Mann. War sie jetzt die Ohne-Angst-Frau? Hatte er sie deshalb erwählt, damals im Theater? Die Vorstellung hatte etwas so Beängstigendes und zugleich Verlockendes, daß sie schauderte, noch unentschlossen, welches der beiden Gefühle überwog.
    Das Ei roch bekannt und doch ungewohnt. Es war ein eigentümlicher Duft, nach Zimt und Hyazinthen. Sarai beugte sich vor und legt ein Ohr an die Schale.
    Es gab nichts zu hören. Es schien, als sei das Ei völlig leer. Trotzdem verharrte sie. Sie wartete.
    Die Zeit verrann. Es wurde Mittag, und die Sonne beschien die öde Schneise. Der Nachmittag kam und schließlich der Abend. Saxonius schwieg geduldig, hüpfte nur gelegentlich von einem Bein aufs andere. Und Sarai lauschte weiter.
    Etwas erwachte in ihr.
    Hab Geduld, sagte der Gefallene in ihrem Schatten.
    Sie gab keine Antwort, preßte nur weiter das Ohr an die Schale, mit geschlossenen Augen und wachen Sinnen.
    Sie träumte vom Reich der Ursachen.
    Etwas knirschte. Es begann auf der anderen Seite des Rieseneis. Sarai zog den Kopf zurück, trat zwei Schritte nach hinten und sah, wie sich ein haarfeiner Riß in der Schale bildete. Er teilte das Ei in zwei Hälften. Er war nicht mehr als ein dünnes Band, keine Öffnung. Die Schale brach nicht auseinander, und doch war es eine Ankündigung von mehr.
    Der Mond ging auf.
    Sarai blickte erwartungsvoll auf den Haarriß. Ganzlangsam, ganz allmählich wurde er breiter. Im kalten Nachtlicht schimmerte das Ei so weiß wie ein Schneeball.
    Im Inneren der Schale war es finster, natürlich. Der Riß war jetzt so breit wie ihr Arm, öffnete sich immer schneller.
    Saxonius erhob sich von ihrer Schulter und flog mit wildem Flügelschlag hinüber zur Öffnung. Einen Augenblick lang verharrte er auf dem zitternden Rand der Spalte. Dann blickte er Sarai ein letztesmal an und schlüpfte durch den Riß ins Innere. Einige Herzschläge lang horchte sie noch auf sein Flattern. Es klang, als fliege er rasch davon, immer weiter von ihr fort, gar nicht so, als sei er in der Schale gefangen. Was immer jenseits des Spaltes liegen mochte, der Vogel war darin verschwunden.
    Der Riß war nun so breit wie Sarais Schultern. Er erbebte ein letztesmal. Dann erstarrte er, öffnete sich nicht weiter. Langsam trat Sarai darauf zu.
    Es tut nicht weh, sagte der Gefallene in ihr.
    In den Ästen rauschte der Wind. Die Wintervögel erwachten für einen kurzen Moment aus ihrem Schlaf. Sie sträubten ihre Federn, streckten sich und nickten wieder ein.
    Sarai zog die Sichel aus ihrem Gürtel und warf sie achtlos ins Dickicht. Sie zögerte nicht länger. Neugierig streckte sie die verstümmelte Hand durch den Riß. Der letzte Hauch von Schmerz verging. Sie schob den ganzen Arm hindurch. Dann ein Bein. Die Hüfte. Sich selbst.
    Das letzte, was sie sah, bevor der Spalt sich hinter ihr schloß, war der Mond am schwarzen Nachthimmel.
    Sie dachte: Zauberei ist fast wie Sterben.
    Und Tod ein wenig Zauberei.
     
     
    NACHWORT DES AUTORS
     
    Die jüdische Mystik ist reich an rätselhaften Zusammenhängen, an fremden Orten und Wesen (und sie alle sind eigentlich weder Orte noch Wesen und vielleicht nicht so fremd, wie es scheint). Schechina, Malchut und die Sefirot entstammen diesem opulenten Glaubensschatz, ebenso der Golem des Rabbi Löw und das Otzar ha-Neschamot. Der Sitz der menschlichen Seele im Schatten findet sich im abendländischen Volksglauben wieder, ihre drei Eigenschaften wurden von Aristoteles definiert - ein Standpunkt, der sich zum Teil mit jenem der Thora deckt. Daß das Verspeisen menschlicher Körper das Wissen des Toten auf den Esser überträgt, war unter anderem eine Überzeugung der Azteken. Viele Naturvölker haben damit Kannibalismus gerechtfertigt.
    Im Roman habe ich mir gelegentliche Überschneidungen der jüdischen Mystik mit anderen Mythen gestattet, etwa im Falle der Baba Jaga, der Hexe im Hühnerhaus, die sich im ungarischen und russischen Raum vermutlich aus alten Urmutter-Kulten entwickelt hat. Beim hebräischen mal'ak Jahve erlaubte ich mir, ihn mit meiner eigenen Figur des Schattenessers gleichzusetzen. Es gibt weitere Querverbindungen
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