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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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mal'ak Jahve war. Er erkannte auch, wonach der Mann und das Mädchen gesucht hatten. Und plötzlich begriff er, daß er die Schechina kannte. Besser als jeder andere.
    Während ihn plötzlich die ganze Wahrheit überkam, spürte er, wie die Alte sich gänzlich aus seiner Seele zurückzog. Er hatte die Vision eines Dornbuschs, der in Flammen aufging, und ein Gefühl sagte ihm, daß er gerade etwas verloren hatte. Das Wichtigste auf der Welt vielleicht - oder, nein, nicht das Wichtigste. Das hatte er schon vor Tagen, vor Wochen verloren, vor dem Haus des Papiermachers, als Nadjeschda und Modja starben.
    Der mal'ak Jahve verschlang Michals Schatten, noch während ihn selbst ein Ruf ereilte. Der Ruf, daß sein Auftrag beendet war. Der Ruf, zurückzukehren.
    Und während Sarai erneut das Bewußtsein verlor und Michal kraftlos zu Boden sank, da entfaltete sich die Doxa ein letztesmal, und der mal'ak Jahve verglühte in seinem eigenen Glanz.
     
     
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KAPITEL 11
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    Beim Hahnenschrei fielen die Hühnerweiber wie Harpyien über die Torwächter her. Dutzende von ihnen quollen aus den geheimen Kellern empor, immer mehr, selbst als die ersten unter Schwertstreichen fielen, eine Flut aus stählernen Krallen und Hühnerfedern, beseelt von Gewißheit, das Richtige zu tun.
    Die Heerführer der Liga hatten ihre Armee nach langem Zögern geteilt. Zwei Drittel verteidigten die Mauern gegen Bethlen Gabors Siebenbürger; die Verbliebenen versuchten, dem Massaker in der Judenstadt Herr zu werden. Und obgleich der Kampf im Inneren, Christen gegen Juden, allmählich verebbte, gewann doch der Angriff des Fürsten Gabor an grausamer Härte. Niemand hatte mit einer Attacke auf das Tor von innen gerechnet, und ehe die Befehlshaber sich von dem Schrecken erholen und neue Söldner zur Verstärkung entsenden konnten, öffneten die Hühnerweiber die gewaltigen Flügel des Stadttors, und herein strömte das Heer Bethlen Gabors. Die Hühnerfrauen erkannten, daß sie getäuscht worden waren, doch die meisten starben gleich darauf im Inferno der Schlacht, ehe sie das wahre Ausmaß des Betrugs erfassen konnten. Nunmehr hatten sie nicht alleindie Männer der Liga gegen sich, sondern auch die Schwerter Siebenbürgens. Zerrieben zwischen den Fronten blieb vom stolzen Kult des Hühnerhauses nicht mehr als Dutzende von Leichen, in den Schlamm getretene Federmäntel und das Wehklagen der Betrogenen, bevor man sie erschlug.
    Der Plan, den Oana und ihr Fürst in vielen Nächten ausgeheckt hatten, schritt seiner Vollendung entgegen.
    Auch die Liga verlor mehr und mehr an Boden, nachdem die Feinde die Mauern durchbrochen hatten. Die Söldner wurden durch die engen Gassen nach Westen getrieben, dem Fluß und der Judenstadt entgegen.
    Als sich die ersten Straßenzüge rund um das Tor und den östlichen Verteidigungswall in der Hand Siebenbürgens befanden, ritten Bethlen Gabor und sein Gefolge in die Stadt ein, unter ihnen die Prophetin Oana. Sie würdigte die Leichen der Hühnerweiber mit keinem Blick. Achtlos lenkte sie ihr Pferd über die Toten hinweg.
    Doch während noch die Heerführer ihrem Fürsten Bericht erstatteten, kam es zum Aufruhr in den Reihen der Siebenbürger. Es begann als leises Murmeln, Gerüchte, die verstohlen von Ohr zu Ohr getragen wurden. Dann stieß man auf die ersten Leichenkarren, horchte auf das Stöhnen hinter den Fenstern, und Furcht packte die mächtige Armee.
    »Der Schwarze Tod!« gellte es durch die Gassen und Straßen, und immer wieder: »Die Pest! Die Pest!«
    Als die Nachricht an die Ohren des Fürsten drang und er bemerkte, wie seine Heerführer immer mehr Gewalt über die Soldaten verloren, da wandte er sich mit zornrotem Gesicht an seine Leibärztin.
    »Oana, sag mir, was hier vorgeht!« verlangte er lauthals, so daß jeder der Umstehenden es hören konnte.
    Sie blickte sich verunsichert um, sah über das Meer der Gesichter hinweg, die alle in ihre Richtung starrten, und sagte leise: »Ich habe das nicht gewußt.«
    Der Fürst wollte etwas erwidern, doch da kam plötzlich Bewegung in die vorderen Reihen seiner Leute, als jene aus den weiter entfernten Straßen zurück zum Tor drängten. Soldaten schrien und stolperten durcheinander, überall entstanden Tumulte, die sich mit jedem Atemzug weiter ausbreiteten. Innerhalb weniger Augenblicke erhoben sich die zwangsrekrutierten Bauern und Tagelöhner gegen ihre Befehlshaber, setzten sich über alle Order hinweg und stürmten voller Angst zum Tor hinaus.
    Fürst Bethlen
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