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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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Gabor und Oana hatten Mühe, ihre Pferde inmitten dieses Ansturms ruhigzuhalten. Siestanden da wie zwei Bäume in einer reißenden Flut, von der Strömung bedroht und bald schon mitgerissen. Was der Armee der Liga nicht gelungen war, hatte nun der Schwarze Tod vollbracht: Das Heer Siebenbürgens zog sich aus Prag zurück, ungeordnet, in Chaos und Aufruhr, brüllend, kreischend, in Panik verfallen.
    Der Fürst und seine engste Vertraute, die ihn so maßlos enttäuscht hatte, preschten auf ihren Hengsten zum Tor, doch bevor sie es erreichen konnten, riß Bethlen Gabor an den Zügeln seines Pferdes, versperrte Oana den Weg und schrie über das Getümmel hinweg:
    »Du hättest es wissen müssen! Du warst hier!«
    Oana wußte, daß es keinen Sinn hatte, ihm zu erklären, daß sie Prags unterirdische Wege benutzt hatte und es dort keine Kranken gab. Sie wußte auch, daß ihre Zeit an seiner Seite vorüber war. Und sie sah, wie er sein Schwert zog und es in ihre Richtung hieb.
    Im letzten Moment gelang es ihr, auszuweichen. Sie ließ sich aus dem Sattel gleiten und stürzte zu Boden.
    Der Fürst zögerte einen Augenblick lang, überlegte, ob er nachsetzen sollte, dann aber gab er Oanas Pferd einen Tritt, auf daß es davongaloppierte; er selbst ritt eiligst hinterher. Oana blieb zurück, niedergesunken im Schlamm, während die fliehenden Soldaten über sie hinwegsprangen. Immer wieder streiften Stiefel ihren zierlichen Körper. Ein besonders heimtückischer Tritt - vielleicht mit Absicht geführt - traf ihren Kopf, und Oana brach zusammen.
    Eine Weile lang umfing sie Dunkelheit. Dann aber, als sie die Augen aufschlug, bemerkte sie, daß man sie durch ein Tor in einen Hinterhof geschleift hatte. Sie sah sich um und suchte nach ihren Rettern.
    Die drei alten Frauen umringten sie und betrachteten ihr Opfer mit flammenden Blicken. Im Hintergrund, in den Schatten der Häuser, erkannte sie die gefiederten Umrisse jener, die sie verraten hatte. Nur wenige waren übriggeblieben. Vor ihnen lag der Leichnam eines Mädchens, blutüberströmt. Die Dienerin der drei Alten mußte im Kampf gefallen sein.
    Niemand sagte ein Wort. Auch Oana schwieg. Sie wußte, daß alles Flehen sinnlos war. Keiner hörte ihr zu. Das Triumvirat der Alten beugte sich von drei Seiten über sie.
    Stahlkrallen blitzten.
    Schmerzen - und Schweigen.
    Als der Tod kam, wußte Oana seine Gnade zu schätzen.
    Der Machtglanz des mal'ak Jahve war längst verloschen. Das Licht, das durch das offene Portal hereinfiel, war der erste Schimmer des neuen Tages. Sarai lag immer noch am Boden, Schultern und Kopf gegen die Wand gestützt. Sie schlief. Es war keine neue Bewußtlosigkeit, die sie ereilt hatte, sondern reiner, heilsamer Schlaf.
    Einmal, kurz nachdem der Schrei des Boten verklungen war, hatte sie einen Blick hinaus auf den Hof geworfen. Der mal'ak Jahve war verschwunden, mochte der Teufel wissen, warum und wohin. Cassius' Leichnam lag unverändert in geronnenem Blut, und neben ihm kauerte der Sichelmann, nunmehr unbewaffnet und reglos wie eine Puppe. Er kniete am Boden u nd starrte blicklos zum Himmel empor.
    Sarai bemerkte, daß der Mann keinen Schatten warf. Er würde ebenso zugrunde gehen wie sie selbst, früher oder später, von eigener Hand.
    Die silberne Sichel lag unweit der Doppeltür am Boden, doch keiner der beiden Überlebenden machte den Versuch, danach zu greifen. Sie wollten nicht mehr kämpfen, nicht Sarai, und Michal noch viel weniger. Mit seiner Seele hatte ihn auch der Rest seines Verstandes verlassen.
    Sarai schlug erneut die Augen auf, als jemand vor ihr aus dem Schatten trat.
    Leander Nadeltanz schenkte ihr ein mattes Lächeln.
    »Komm«, sagte er, »es ist an der Zeit, zu gehen.«
    Er streckte beide Hände aus und half ihr auf die Beine. Ehre verstümmelte Hand tat weh. Der notdürftige Verband war dick verkrustet.
    Nadeltanz schob sie durch die Tür ins Freie. Sie bückte sich schwerfällig, hob die Sichel auf und steckte sie in ihren Gürtel.
    Ungehindert traten sie an dem knienden Mann vorüber. Er wandte den Blick nicht vom Himmel ab, zuckte nicht einmal mit den Lidern.
    Durch Gänge und Säle, durch Kammern und Flure führte Nadeltanz Sarai zum Ausgang. Das Tor stand offen, die Bretterbarrikade war verschwunden. Der Ewige, der Ohne-Angst-Mann, hatte sie entfernt.
    »Ich bin dir eine Erklärung schuldig«, sagte er, obgleich Sarai ihn mit keinem Wort darum bat.
    Willenlos ließ sie sich von ihm über den Platz führen. Weinende Menschen
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