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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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langsam hob und senkte, doch im Dämmerlicht konnte sie dessen nicht sicher sein. Trotzdem fühlte sie maßlose Erleichterung, als sie ihn so dort sitzen sah. Er sah aus, als sei er zufrieden.
    Das Leid der Judenstadt war keineswegs beendet, doch Pest und Tyrannei der Liga vermochte auch ein Geschöpf des Rabbi Löw nicht zu bezwingen. Er war erwacht, als der mal'ak Jahve erstmals in Erscheinung trat, und die vergangene Nacht des Tötens und Brandschatzens mußte für ihn eine unvorstellbare Qual gewesen sein. Als aber die Soldaten die Massen in ihre Schranken wiesen und der Bote in seiner Doxa verging, da löste sich der Wachbann, und Josef durfte endlich wieder schlafen. Sarai wünschte ihm, daß für lange Zeit Ruhe in der Judenstadt einziehen würde. Sie hoffte, daß ihn das von seinem Fluch erlöste.
    Saxonius wirbelte hinter ihr her, als sie die Kammer verließ und von außen den Riegel vorschob. Die Rabbiner würden dafür sorgen, daß der Dachboden wieder mit sperrigen Möbeln gefüllt und der Zugang dahinter verborgen würde.
    Sie wollte gerade zurück ins Erdgeschoß gehen, als sieweiter unten auf der Treppe Schritte vernahm. Hastige Schritte. Ein Gesicht stieg aus der Dunkelheit empor.
    »Ich wußte, daß ich dich hier finde!«
    Kaspar und Sarai fielen sich erleichtert in die Arme. Seine Kleidung war voller Ruß, sein Gesicht schmutzig.
    »Bist du verletzt?« fragte sie besorgt.
    Er schüttelte den Kopf. »Nur Kratzer.« Er blickte an
    ihr hinab. »Um Himmels willen, was ist mit deiner Hand passiert?«
    Merkwürdigerweise hatte sie die Wunde trotz der pulsierenden Schmerzstöße gänzlich vergessen. Erst als sie nun gleichfalls darauf schaute, wurde ihr die Verstümmelung von neuem bewußt. Sie verspürte keine Verzweiflung darüber, nicht einmal Ärger. Jener Teil ihrer selbst, der sich darum hätte sorgen müssen, gehörte ihr nicht mehr.
    Sie berichtete mit wenigen Worten, was im Palais Siebensilben geschehen war. Allein, daß sie ihre Seele im Otzar ha-Neschamot zurücklassen mußte, verschwieg sie ihm.
    Gemeinsam verließen sie die Altneu-Synagoge und gingen durch die verwüsteten Straßen der Judenstadt.
    Die Toten waren noch nicht bestattet, trotzdem begannen einige Familien bereits mit dem Sortieren ihrer heilgebliebenen Besitztümer. Von heute an würden Armut und Elend hier noch schlimmer wüten. Die Herrschaft der Liga konnte daran nichts ändern.
    Kaspar warf gelegentlich verwunderte Blicke auf Saxonius, der auf Sarais Schulter thronte, sagte aber nichts. Erst als ihm klar wurde, daß sie immer weiter nach Osten gingen, über die Grenzen der Judenstadt hinaus, da fragte er:
    »Wohin willst du?« »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte sie matt. »Fort von hier.« Sein Gesicht verlor merklich an Farbe. »Ich hatte geglaubt, wir könnten ...«
    »Uns besser kennenlernen?«
    »So ungefähr, ja.«
    Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich muß fort aus Prag. Ich kann nicht hierbleiben.« »Warum?« An einer Kreuzung blieb sie stehen. »Warum? Schau
    dich doch um. Da hast du die Antwort.« Sie wies mit der ausgestreckten Hand fahrig in die Umgebung. Ihre Finger zeigten auf Verletzte in den Rinnsteinen; auf einen umgestürzten Pestkarren, den die Verteidiger als Barrikade quer in eine Gasse gekippt hatten; auf Mütter, die ihre schreienden Kinder nicht mehr zu beruhigen vermochten. Sie deutete auf eine Kompanie angeschlagener Söldner, die wie gerupfte Hühner umherschwankten, auf zerbrochene Schwerter und Pfützen aus getrocknetem Blut.
    Schließlich ging sie wortlos weiter.
    Kaspar lief hinter ihr her und holte auf. »Ich komme mit dir.« »Nein«, sagte sie. »Ich muß allein gehen.« Vor ihnen, am Ende der Straße, tauchte das Tor auf, das die Hühnerfrauen dem Heer Bethlen Gabors geöffnet hatten. Nach der Flucht der Siebenbürger hatte sich niemand die Mühe gemacht, es zu schließen. Die Soldaten aus Transsylvanien würden nicht zurückkehren, den meisten Ligasöldnern mußte vielmehr selbst nach Flucht zumute sein. Hunderte würden heute und in den kommenden Tagen das Weite suchen.
    »Ich verstehe dich nicht«, sagte Kaspar, und es klang verzweifelt.
    »Es geht nicht anders, glaub mir.« Sie blieb erneut stehen und versuchte zu lächeln; sie war nicht sicher, ob es ihr gelang. Tränen stiegen in ihr auf, doch sie hielt sie mit aller Macht zurück.
    »Irgend etwas ist noch geschehen, nicht wahr?« fragte er leise, während er fest in ihre Augen blickte.
    »Ja«, sagte sie kurz. »Etwas ist
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