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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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suchten, einige Bürger Prags auf ihre Seite zu ziehen, übermittelte ich ihnen einen ... nun ja, einen Vorschlag. Es schien mir nötig, eine Verbindung zwischen ihnen und der Baba Jaga herzustellen, denn nur so konnte der arme Michal mit ihrer Hilfe in die Fänge der Schechina geraten. Ich gestehe, ich konnte der Möglichkeit des Taktierens nicht gänzlich widerstehen.«
    »Dann war er nichts als Eure Puppe. Euer Geschöpf.«
    »Soweit würde ich nicht gehen«, entgegnete Nadel-tanz bescheiden, und Sarai drang nicht tiefer in ihn.
    Schließlich war auch sie selbst nichts als eine Spielfigur in dieser großangelegten Partie aus Strategie und magischer Intrige, gespielt nach den geheimnisvollen Regelnder Mystik. Sie war nicht einmal sicher, ob sie selbstfreudlose Gewinnerin oder gleichgültige Verliererin war. Wer hatte gewonnen, und wer verloren? Sie ahnte, daß es auf diese Frage keine Antwort gab.
    »Ich werde sterben«, sagte sie fest. Der Gedanke hatte nichts mehr, das sie zu ängstigen vermochte.
    »Ja«, sagte Nadeltanz.
    »Hat mich die Schechina deshalb nicht töten lassen, so wie Cassius?«
    »Vielleicht«, entgegnete er vage. »Bedenke, sie ist keine durch und durch böse Kreatur. Sie mag in ihrer jetzigen Form zum Übel neigen und ihre Ziele mit Hilfe von Mitteln verfolgen, derer sie sich früher enthalten hätte, doch sie ist nicht wahrlich schlecht. Letztlich ist sie ein Teil deines Gottes, Sarai.«
    »Meines Gottes!« stieß sie verächtlich hervor. Sie waren am Rande des Platzes stehengeblieben, und nun ertönte von oben ein leises Flattern, das immer näher kam Und lauter wurde. Sarai blickte auf, direkt in die aufgehende Sonne. Das Licht blendete sie. Einen Augenblick lang glaubte sie, der Bote sei zurückgekehrt, doch dann verdeckte etwas die flirrenden Strahlen, raste auf sie zu und verkrallte sich in ihrer Schulter.
    »Saxonius!« entfuhr es ihr erleichtert.
    Der bunte Vogel beugte sich vor und rieb seinen Schnabel an ihrer Schläfe. »Der Teufel kommt, der Teufel kommt!« kreischte er.
    Sarai schüttelte sanft den Kopf. »Nicht mehr, Saxonius. Der Teufel kommt nicht mehr.«
    Sie blickte in die dunklen Augen des Vogels. Er zwinkerte, und sie mußte lachen, ungeachtet ihrer Schmerzen und trotz all des Elends, das sie umgab. Sie dachte an Cassius, auch daran, wie er gestorben war, aber noch war sie unfähig, ihn zu betrauern. Sicher, der Gedanke an seinen Tod tat weh, aber es würde einige Zeit dauern, ehe sie den Verlust vollends begreifen würde. Viel mehr Zeit, als ihr blieb.
    Sie wollte etwas zu Nadeltanz sagen und sah sich nach ihm um.
    Er war fort. Wohin sie auch blickte, der Ewige war nirgends zu sehen. Ganz so, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
    Verwirrt wandte sie sich an ein altes Weib, das nahebei stand, rußverschmiert und aus einer Platzwunde an der Stirn blutend. Die Frau blickte starr auf Saxonius und lächelte, als flöße ihr der Vogel mit seinem schillernden Gefieder und der schrillen Stimme Hoffnung ein.
    »Wohin ist der Mann gegangen, der bei mir stand?« fragte Sarai.
    Sie wußte die Antwort, noch ehe die Frau den Mund aufmachte.
    »Welcher Mann?«
    Sarai schloß für einige Herzschläge die Augen und atmete tief durch, dann erinnerte sie das Scharren von Saxonius' Krallen daran, daß es noch etwas gab, das sie erledigen mußte.
    Sie unternahm keinen zweiten Versuch, nach Nadel tanz zu fragen.
    Der Mann Josef schlief, als Sarai die Speicherkammer betrat. Unten, im Hauptsaal der Synagoge, hatten sich zahllose Männer eingefunden, um in ihrer Not den Beistand des Herrn zu erflehen. Der Rabbiner, der den Gottesdienst leitete, war nicht derselbe wie in den Tagen zuvor. Jener war dem mal'ak Jahve zum Opfer gefallen und wartete irgendwo auf sein Ende - wie so viele andere, von denen Sarai nie erfahren würde. Sie wagte nicht einmal eine Vermutung, wie viele Schatten der Bote verschlungen hatte.
    Josef, der Golem, war wieder in seinen magischen Schlaf gefallen. Er saß oben im Gebälk der Speicherkammer, hoch über Sarais Kopf, im Winkel zweier Balken, den Rücken angelehnt, ein Knie leicht angezogen. Es sah aus, als säße er tagträumend mit geschlossenen Augen da, ganz gelassen, ganz ohne Sorgen. Erst zweifelte sie noch, ob er wirklich schlief. Dann aber erhob sich Saxonius von ihrer Schulter, stieg flatternd durch das Netzdünner Lichtfäden zu den Balken empor und hockte sich auf Josefs Kopf. Der Golem zuckte nicht einmal. Sarai glaubte zu erkennen, daß sich seine Brust
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