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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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Schneide durch den Knochen des kleinen Fingers drückte. Der Körper des Mädchens zuckte. Ein roter Strahl spritzte aus der Wunde.
    Michal nahm den abgetrennten Finger und führte ihn zum Mund.
    Ja, iß ihn, drängte die Stimme.
    Er tat, was sie ihm gebot. Es war eine mühsame Angelegenheit, denn die Finger des Mädchens waren schlank und nahezu fleischlos.
    Binde die Wunde ab, verlangte die Alte.
    Während er noch kaute, riß er sich einen Stoffetzen vom Leib und verband den rohen Stumpf.
    Der Verzehr des Fingers verriet ihm wenig über das Mädchen. Allein die Eri nnerungen, die sich an der Ober fläche ihres Denkens befanden, ließen sich abschöpfen.
    Er griff nach der Sichel, überzeugt, daß er die Kleine doch noch würde aufschneiden müssen.
    Geraume Zeit sprach die Stimme der Alten kein Wort. Es dauerte stets eine Weile, ehe sich das Wissen des Opfers auf sie übertrug. Michal hockte in Blut und Schmutz, um sich die Dunkelheit, über sich das feuerbeschienene Himmelsviereck. Er wartete auf weitere Befehle und fragte sich, welchen Teil seiner Selbst die Alte bewohnte. Manchmal schien es ihm, als hätte sie sich wie ein Straßenköter in seine Gedanken verbissen. In seinem Herz. In seiner Seele.
    Ich brauche mehr, sagte die Alte plötzlich. Mehr Wissen. Sie weiß so vieles. Sie hat sich auf einen gefährlichen Handel eingelassen. Sie war im Schatzhaus. Schnell, noch ein Finger. Da ist eine ... Gefahr!
    Er spürte, wie die Alte sich in seinen Willen grub, wie sie selbst sein Handeln übernahm. Erneut packte er das Handgelenk des Mädchens, ganz ohne sein Zutun. Hob die Sichel.
    Das Licht wehte wie ein Geruch heran, schleichend und doch so mächtig und überwältigend, daß es ihn völlig durchdrang. Er hatte die Gestalt nicht bemerkt, die lautlos hinter seinem Rücken auf den Hof getreten war und ihren weiten Mantel geöffnet hatte. Als Michal herumfuhr, war es bereits zu spät.
    Die Doxa des mal'ak Jahve ergoß sich über den Hof und erfaßte alles mit ihrem Licht.
    In Michals Kopf erklang der gequälte Schrei der Baba Jaga. Von einem Herzschlag zum anderen ließ sie von seinem Willen ab. Michals Hand öffnete sich, er gab Sarais Gelenk frei. Die Sichel, gerade noch zum Schlag erhoben, sank herab. Er sprang auf und stellte sich dem neuen Gegner entgegen. Das Licht, das dem Körper des Fremden entfloß, blendete ihn. Die Stimme der Alten drängte ihn fortzulaufen, aber sie hatte aus Gründen, die er nicht verstand, keine Macht mehr über ihn. All ihre Kraft strömte in eine andere Richtung, als entschiede sich der Kampf zwischen ihr und dem Fremden anderswo, unfaßbar weit entfernt.
    Während sie mit ihm rang, wurde das Licht immer heller. Michal kniff die Augen zusammen und stand da wie erstarrt, durchaus fähig, sich zu bewegen, aber blind und seltsam hilflos. Er wollte sich auf den Fremden stürzen, doch etwas hielt ihn zurück. Er fühlte, daß der andere stärker war. Unendlich stärker.
    Der Machtglanz des mal'ak Jahve kroch auch durch Sarais geschwollene Augenlider. Sie glitt zurück in die Wirklichkeit, immer noch verwirrt, immer noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Licht des Boten aber erkannte sie sofort.
    Sie fürchtete ihn nicht mehr. Ihre Seele hatte sie längst verloren. Der Verlust ihres Schattens bedeutete keine Gefahr mehr. Sie war ohnehin so gut wie tot.
    Ihre linke Hand war taub. Als sie mühsam den Kopf hob und einen Blick darauf warf, sah sie, daß sie nur noch vier Finger besaß.
    Der mal'ak Jahve begann zu schreien. Risse züngelten über die Mauern des Palais Siebensilben wie schwarze Blitze.
    Mit letzter Kraft kroch Sarai auf die nahe Doppeltür zu. Der Mann mit der Sichel beachtete sie nicht. Er hatte seine Hände um eine Kette mumifizierter Hühnerkrallen geballt, die er am Hals trug, und starrte mit blinden Augen in die gleißende Doxa.
    Sie erreichte die offene Tür als der Machtglanz zu voller Kraft erglühte. Heulend vor Schmerz, aber auch vor Erleichterung, schleppte sie sich ins Haus und brach im Schutz der Wand zusammen. Kraftlos und gleichgültig blieb sie liegen, wartete ab, bis alles vorüber war.
    Michal spürte die Verzweiflung der Alten. Sie hatte sich nicht völlig aus seiner Seele zurückgezogen, noch nicht, und immer noch rang sie mit der Macht der Erscheinung. Michal war im Inneren nicht so leer, wie es von außen scheinen mochte. Er besaß das Wissen des Alchimisten und einen kleinen Teil von Sarais Erinnerungen, und er wußte sehr wohl, was der
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