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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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Balken knallte und zerbrach. Sarai sah dem leblosen Mann nach, als er im Dunkel zwischen den Bohlen entschwand.
    Sie baumelte mit den Händen an einer der oberen Streben und strampelte mit beiden Beinen, bis ihre Füße Halt fanden. Dann ließ sie sich rittlings auf einem Balken nieder und lehnte sich gegen die Hauswand. Ihr Atem raste. Vor Erschöpfung kreisten bunte Feuerräder vor ihren Augen, und sie fühlte plötzlich den heftigen Drang, einfach einzuschlafen. Immer wieder blickte sie nach unten, um zu sehen, ob sich am Grund des Schachtes etwas rührte, doch da war nichts. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glaubte sie gar, den reglosen Körper des Söldners zu erkennen. Ja, dachte sie, da lag er. Ohnmächtig oder, besser noch, tot. Es erschreckte sie nicht, daß sie diesen Gedanken faßte der Kerl hatte sich jeden gebrochenen Knochen redlich verdient. Auch ein gebrochenes Genick.
    Nach einer ganzen Weile, in der Sarai kein Lebenszeichen des zweiten Soldaten bemerkte, machte sie sich an den Abstieg. Sie kletterte langsam, fast behäbig. Ihre Hände brannten noch immer von zahllosen Splittern, und in ihrem Kopf drehten sich die Gedanken vor Aufregung. Sie hangelte sich in einem weiten Bogen über den Toten hinweg und ließ sich schließlich zum Boden hinab. Der zweite Söldner war fort. Das wunderte sie. Irgend etwas mußte ihn derart erschreckt haben, daß er die Flucht ergriffen und seinen Kameraden zurückgelassen hatte. Sicher hatte er sich nicht vor Sarai gefürchtet, ganz gleich, was mit dem anderen Mann geschehen war. Am Boden wäre sie ihm unterlegen gewesen. Sie hatte Glück gehabt.
    Das Mädchen trat aus der Gasse ins Freie. Dabei entdeckte es etwas im Schmutz und machte einen Schritt zurück ins Zwielicht des engen Schachtes, um ihren Fund genauer zu betrachten. Sie bückte sich und streckte vorsichtig die Finger danach aus.
    Auf einem winzigen Bett aus Federn lag ein Ei.
    Sarai hob es auf und wog es nachdenklich in der Hand. Größe und Gewicht waren fraglos die eines gewöhnlichen Hühnereis. Die Schale war weiß und spröde.
    Einen Augenblick lang erwog sie, es aufzuschlagen, um zu sehen, was darin war. Dann aber stand sie auf, schützte das Ei mit beiden Händen und ging.
    Der Mihulka-Turm erhob sich aus der schnurgeraden Burgmauer im Norden des Hradschin und überschaute die Haine und Gewächshäuser des Krälovskä Zahrada, des großen Königsgartens. Der runde, nur mit wenigen Fensterschächten versehene Bau war unter Wladislaw II. als Geschützturm errichtet worden. Nach dem Burgbrand im Jahre 1541 hatte der Glockengießer Tomas Jaros dort Werkstatt und Quartier bezogen. Als Kaiser Rudolf II., Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, Prag zu seiner Hauptstadt erkor und sich in den Sälen und Kammern des Hradschin niederließ, hielt mit ihm auch seine Vorliebe für okkulte Studien Einzug in die Burg. Eine Handvoll Alchimisten richtete sich in des Kaisers Auftrag im Mihulka - Turm ein und betrieb dort geheime Forschungen. 1611 wurde Rudolf von seinem Bruder Matthias zur Abdankung gezwungen und der Kaisersitz nach Wien verlegt; damit verließen auch die Alchimisten die Burg alle bis auf einen.
    Seither lebte Cassius allein im Turm, geduldet von den böhmischen Statthaltern des Kaisers, vor allem wohl, weil er sich niemals außerhalb des entlegenen Bauwerks sehen ließ. Über die Jahre hinweg vergaß man ihn, und Cassius genoß im Inneren seines steinernen Zuhauses Narrenfreiheit. Niemand, nicht einmal Sarai, wußte, was er wirklich dort tat, welches Ziel er verfolgte. Er brodelte und brutzelte in seinen Schalen und Tiegeln, wie es wohl Art der Alchimisten war, doch das Warum blieb Sarai ein Rätsel.
    Sicher wäre es mit der stillen Duldung des alten Kauzes vorbei gewesen, hätte man bemerkt, daß er schon vor Jahren ein Loch in den Stein am Fuß des Turmes geschlagen hatte, einen schmalen, unauffälligen Aus und Einstieg, durch den er regelmäßig die Burg verließ, um durch die Gärten zu streifen und dabei seinen düsteren Gedanken nachzuhängen.
    Durch diese geheime Öffnung, verborgen hinter dichtem Buschwerk, betrat Sarai den Mihulka-Turm . Die Gärten des Hradschin lagen in der Form eines Hufeisens um die Burganlage. Die Mauer, die sie umfaßte, war hoch und ungemein schwer zu erklimmen, und sie war so lang, daß es beinahe unmöglich schien, sie gänzlich gegen Eindringlinge abzuschirmen. Daher beschränkten sich die Wachen darauf, jeden unwillkommenen Besucher an
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