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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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ausgestopft, und berührte das Holz nur mit den Zehenspitzen. Beide Hände hatte sie hinter dem vorgebeugten Rücken verschränkt. Sie trug einen Mantel oder Umhang, der lückenlos mit hellbraunen Hühnerfedern besetzt war. Ihr Haar war kurzgeschoren bis auf einen rotgefärbten Kamm, der von der Stirn bis hinab in den Nacken reichte. Die Frau hatte ein hageres, ausgezehrtes Gesicht und dunkle Augen, die tief in den Höhlen lagen. Ihr Blick war starr auf Sarai gerichtet. Sie sagte kein Wort. Nur ihre Federn sträubten sich raschelnd im Wind.
    Sarai hörte unter sich wieder das Keuchen des Söldners, doch sie hatte nur Augen für das groteske Hühnerweib. Nie zuvor hatte sie dergleichen gesehen. Sie vermochte den Gesichtsausdruck der unheimlichen Frau nicht zu deuten. Blickte sie bedrohlich oder teilnahmslos? Gleichgültig oder verärgert?
    Sarai fürchtete, daß sie es bald erfahren würde, denn jetzt machte die Gestalt einen Schritt in ihre Richtung. Sie streckte eines der angewinkelten Beine nach vorne, bis es den nächstliegenden Balken berührte, schien sich mit den nackten Zehen daran zu verkrallen und zog sich allein kraft ihres Fußes hinüber. Dabei blieb sie in ihrer hockenden Haltung. So fremdartig die Bewegung auch wirkte, die Frau behielt dabei mühelos ihr Gleichgewicht.
    Als sie zu einem zweiten bizarren Schritt ansetzte, schob sich vor Sarai der Kopf des Söldners aus dem Balkengewirr. Zwischen den Zähnen hielt er einen Dolch. Sarai schrak zurück.
    Der Soldat hatte die fremde Frau noch nicht entdeckt. Sie befand sich in einigem Abstand hinter ihm, während er Sarai siegessicher entgegenstarrte. Er war am Ziel seiner Jagd. Einen Augenblick lang glaubte Sarai, die Hühnerfrau käme ihr zur Hilfe. Etwas an ihr ließ sie weniger seltsam als bedrohlich erscheinen. Vielleicht war es die Weise, in der sie sich bewegte; die Frau mußte lange geübt haben, bis sie derart leichtfüßig über die Balken schreiten konnte.
    Doch Sarais Hoffnung auf Hilfe wurde enttäuscht.
    Gleich nachdem der Söldner aus dem Bohlengitter auftauchte, zog die Frau ihren ausgestreckten Fuß zurück und ließ sich hinterrücks in die Tiefe fällen!
    Sarai wartete auf einen Aufschlag auf den Balken, auf das Splittern und Bersten des Holzes. Statt dessen aber war da nur ein leises Trippeln und Rauschen, dann Stille. Das Hühnerweib war verschwunden.
    Der Söldner hatte nichts von alldem bemerkt. Wohl aber sah er das Grauen auf Sarais Zügen und bezog es auf sich selbst. Dabei war sie vor Schrecken wie gelähmt vor Schrecken über den geisterhaften Abgang der Frau.
    Der Soldat grinste und zog sich am Balken nach oben. Schließlich war er auf einer Höhe mit Sarai. Sie schüttelte ihr Entsetzen über das Hühnerweib ab, widmete ihre Furcht nun gänzlich dem Söldner. Der Mann nahm sein Messer in die Hand und richtete es langsam auf Sarai.
    Sie tat das einzig richtige und trat zu. Wegen des Balkens, auf den er sich stützte, bemerkte er die Bewegung zu spät. Sarais Fuß traf ihn mit voller Wucht am Knie. Sein Stiefel rutschte von der Bohle ab. Erstaunen über die unerwartete Gegenwehr erschien auf seinen Zügen, dann sauste sein Gesicht plötzlich nach unten weg. Mit einer Hand hielt er sich am oberen Balken fest, die andere tastete panisch nach einer zweiten Stütze.
    Sarai hämmerte ihre Faust mit aller Kraft auf seine Finger. Seine Hand schnappte auf, er stürzte. Allerdings nicht tief, dann verhakte er sich mit den Achseln an einem weiteren Rundholz. Fluchend versuchte er sich hochzurappeln, fand Widerstand unter seinen Füßen und war sogleich wieder Herr über sein Gleichgewicht.
    Er befand sich nun unter Sarai. Mit hastigen, zitternden Bewegungen riß sie Cassius' Lederbeutel aus dem Hosenbund und öffnete ihn mit fliegenden Fingern. Dann kippte sie den Staub aus dem Schatten der Gepfählten direkt in das Gesicht des Söldners.
    Es gab keinen magischen Blitz, nicht einmal ein fernes Donnern. Statt dessen stach der Schmutz schmerzhaft in den Augen des Mannes und behinderte seine Sicht.
    Cassius hätte diese fade Wirkung vielleicht enttäuscht, doch für Sarais Zwecke reichte sie aus. Das Mädchen löste beide Füße vom Balken, hielt sich zugleich mit den Händen an einem anderen fest und ließ sich in die Tiefe gleiten. Ihre Fersen trafen die blinden Augen des Soldaten. Er schrie auf und stürzte. Stürzte tiefer, immer tiefer und sch lug dabei unzählige Male auf den Holzstreben auf. Sein Rückgrat knirschte, als es auf einen
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