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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser
Autoren: Kai Meyer
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Männer nicht nebeneinander gehen konnten. Die beiden hatten bemerkt, daß die Balken Sarai am Fortlaufen hinderten.
    Der Abstand zwischen ihr und dem vorderen der Söldner mochte noch vier Mannslängen betragen, kaum mehr. Die beiden rannten jetzt nicht mehr, sondern kamen gemäßigten Schrittes auf sie zu. Der erste machte sich bereits an seinem Hosenlatz zu schaffen.
    Sarai wirbelte herum und besah sich die Balken genauer. Unten am Boden standen sie schräg und verwinkelt. Da aber die gesamte Hauswand vom Einsturz bedroht war, hatte man auch weiter oben Balken angebracht, diese jedoch waagerecht, so daß sich zwischen den beiden Mauern ein enges Netz aus hölzernen Bohlen entspann. Sarai wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Sie hatte keine andere Wahl.
    Sie packte mit beiden Händen einen der Querbalken auf Höhe ihres Gesichts und zog sich strampelnd daran empor. Es fiel ihr schwerer, als sie erwartet hatte. Sie war nie gerne geklettert, auch nicht als Kind. Zudem verabscheute sie große Höhen. Cassius war einmal mit ihr hinauf aufs Dach des Mihulka - Turmes gestiegen. Danach war ihr zwei Tage lang sterbenselend und schwindelig gewesen.
    Hinter ihr fluchten die Söldner und trampelten vorwärts, doch ihre ausgestreckten Arme griffen ins Leere. Sarai zog sich bereits am nächsten Balken nach oben, kletterte von dort aus tiefer ins Gewirr der Stützbohlen. Die Abstände zwischen den einzelnen Hölzern waren nicht groß, doch manche ächzten gefährlich unter der plötzlichen Belastung. Splitter bohrten sich in Sarais Handflächen und Knie, und nach vier, fünf weiteren Bal1 ken schmerzten ihre Hände so sehr, daß sie nur noch halb so schnell klettern konnte. Sie befand sich jetzt gute drei Mannslängen über dem Boden und etwa ebenso tief im Inneren des Balkengitters.
    Einen Augenblick lang verharrte sie und blickte angstvoll zurück. Einer der beiden Männer folgte ihr. Und, so stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, er war weit wendiger, als sein ungeschlachtes Äußeres vermuten ließ.
    Trotz der Schmerzen in ihren Händen kletterte sie weiter. Der Söldner trug Handschuhe, was ihm einen Vorteil verschaffte. Sarai allerdings war schmaler und geschmeidiger, und trotz seines Geschicks war sie die Flinkere von beiden. So hangelte sie sich eilig von Balken zu Balken und behauptete unter Mühen und einem empfindlichen Brennen in den Fingern ihren Vorsprung bis die Gasse plötzlich ein Ende hatte. Sarai bemerkte die Wand erst, als sie direkt davor hockte. Eine grünschwarze Mauer, an der glitzerndes Wasser herabrann.
    Verzweifelt schaute sie nach hinten. Der Söldner kam näher, und auch er erkannte jetzt, daß Sarai in der Falle saß. Keuchend kletterte er auf sie zu.
    Sarai blieb nur die Flucht nach oben, weiter in die schwindelnde Höhe des Balkengitters. Die beiden angrenzenden Gebäude mochten vier Stockwerke hoch sein. Die Stützbohlen reichten hinauf bis zum Dach. Es gab keine Fenster und Türen, die hinaus in den schmalen Spalt führten, nur glattes, feuchtes Mauerwerk.
    Einen Moment lang überlegte Sarai, ob es ihr gelingen mochte, den Verfolger im Wirrwarr der Balken zu umklettern und zum Anfang der Gasse zurückzukehren. Dort aber wartete gewiß noch immer der zweite Söldner. Nein, sie mußte nach oben, mochte sie die Höhe noch so sehr fürchten.
    Das angestrengte Stöhnen des Soldaten kam näher, während sie sich selbst u nter Aufbietung aller Kräfte weiter hochzog und aufwärtsstemmte. Zwischen den Balken sah sie jetzt immer größere Splitter des stahlblauen Morgenhimmels. Sarai wagte nicht mehr, nach unten zu blicken.
    Schließlich erreichte sie die obere Ebene und bemerkte sogleich, daß sie sich erneut getäuscht hatte: Die Balken reichten nicht hinauf bis zum Dach. Tatsächlich endete das Gitterwerk fast zwei Mannslängen unterhalb der Schindelkante. Sie mochte sich noch so sehr strecken, sie würde nicht danach greifen können. Erschüttert und beinahe ungläubig erkannte sie, daß sie den Wettlauf verloren hatte. Sie konnte von hier aus nirgendwo hin als wieder nach unten. Dorthin, wo die beiden Schänder sie erwarteten.
    Sarai klammerte sich verzweifelt an eine der Querstreben, als ihr Blick zum erstenmal zurück in die Richtung des Gassenausgangs fiel.
    Dort saß, auf dem äußersten Balken am Abgrund zur Straße hin, ein menschliches Huhn.
    Oder besser: Eine Frau, die sich größte Mühe gab, wie ein Huhn zu erscheinen. Sie hockte mit angezogenen Knien auf dem Balken, starr und steif wie
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