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Einer kam durch

Titel: Einer kam durch
Autoren: von Werra Franz
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    … Was der Abend bringt
    Die Sonne erhob sich an diesem Tag um 5.19 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Ihr Licht war rot und satt, es funkelte in den Tautropfen der fetten normannischen Wiesen und verwandelte das Meer vor der französischen Küste in einen violetten Teppich. Ein leichter Seewind strich landeinwärts, flappte in den Vorhängen der Zelte und raschelte in den Blättern der Zeitung, die Simba, der Löwe, auf die Wiese geschleppt hatte, um damit zu spielen. Simba blinzelte, schlug die Krallen in das Papier und zerriss es in lange Streifen, die der Wind forttrug. Nach einer Weile begann er zu gähnen, erhob sich, streckte sich ein wenig und schlich zur Feldküche. Die Sonne stieg, ihr Licht wurde weiß, die Tautropfen erloschen. Das Meer verlor seinen violetten Schimmer und hüllte sich in ein bleifarbenes Gewand, aus dem hier und da die weißen Schaumkappen der Wellen blitzten. Von weither kam der Klang von Kuhglocken, ein Traktor tuckerte, Staubfahnen auf den Feldwegen verrieten, daß die Bauern zur Arbeit ausrückten, ein Milchwagen rollte an dem Feldflughafen vorbei. Das Scheppern der Kannen drang bis zu den Zelten der deutschen Jagdflieger hinüber.
    »Taschenberger«, sagte eine Stimme aus einem der Zelte. Der Fahrer des Kommandeurs blieb stehen und schaute sich um. Er sah im Halbdunkel des Eingangs einen nackten mittelgroßen Mann, der sich vor einem Stück Spiegelglas rasierte. Es war der Gruppenadjutant, Oberleutnant Franz von Werra.
    Taschenberger erstarrte in vorschriftsmäßiger Haltung. »Herr Oberleutnant?«
    »Ist der Kommandeur schon auf?«
    »Rasiert sich auch gerade.«
    Der Adjutant schwieg einen Augenblick, weil er bei einer delikaten Stelle am Kinn angelangt war. Dann sagte er: »Ich bin in zehn Minuten bei ihm.«
    »Jawoll, Herr Oberleutnant.«
    »Und sagen Sie dem Koch, er soll mir einen starken Tee machen.«
    Taschenberger wartete einen Augenblick, ob noch weitere Befehle kämen, sagte nochmals »jawoll« und trollte sich. Eine Minute später trat Oberleutnant von Werra, nackt wie er war, vor das Zelt. Er griff nach einem Eimer voll Wasser und goß sich die Hälfte des Inhalts über Kopf und Leib. Dann seifte er sich ein und benutzte die andere Hälfte des Wassers, um die Seife wieder zu entfernen. Er war nicht übermäßig groß, aber sehr gut gebaut, etwa wie ein Boxer der Bantam-Klasse, drahtig und von der Sonne tiefbraun gebrannt. Sein blondes Haar glänzte dunkel, er preßte das Wasser heraus, ergriff einen zweiten Eimer und stülpte sich den Inhalt über den Kopf. Dann steckte er einen Finger ins rechte Ohr, hüpfte auf der Stelle und schüttelte das Wasser heraus.
    In diesem Augenblick begann es hinter den Hecken, die den Zeltplatz abschlossen, dumpf zu heulen. Es war ein unheimliches Geräusch für jemand, der es nicht kannte. Das Heulen steigerte sich zu einem wilden, röhrenden Gebrüll, das langsam abschwoll und wieder anstieg. Eine dicke Staubwolke erhob sich hinter der Hecke und breitete sich über die Wiese.
    »Diese Schweine«, sagte Werra ohne jeden Zorn, trat in das Zelt zurück und schloß die Klappen. Während das Geräusch der Flugzeugmotoren draußen langsam verstummte, fiel sein Blick auf den Kalender. Er riß das oberste Blatt ab und las das neue Datum: Donnerstag, 5. September 1940. Darunter stand der Spruch des Tages: »Niemand kann am Morgen sagen, was der Abend bringen wird!«
    Seit dreiundzwanzig Tagen griff die deutsche Luftwaffe England an. Seit dreiundzwanzig Tagen flogen Jagd- und Kampfmaschinen einen Angriff nach dem anderen auf die Insel, um das etwas großmäulige Versprechen des Reichsmarschalls Göring wahrzumachen, daß ›die Möwen zu Fuß gehen werden, wenn die deutsche Luftwaffe England angreift‹. Nun, möglicherweise gingen die Möwen drüben schon zu Fuß; die englischen Jäger taten es jedenfalls nicht. Woher die Engländer ihren Nachschub an Fliegern nahmen, wußte niemand. Studenten und Reservisten wahrscheinlich. Sie waren immer wieder da, griffen die Bomberverbände an, verwickelten den deutschen Begleitschutz in Einzelkämpfe und verhinderten eine planmäßige Vernichtung der Royal Air Force, die der großen Invasion ›Seelöwe‹ vorausgehen mußte. In Dünkirchen hatten die Briten sich nicht allzu interessiert gezeigt, aber jetzt ging es um die Wurst, und der Tommy war zäher, als irgend jemand geglaubt hatte.
    Der Oberleutnant von Werra schob seinen Fliegerpaß in die Brusttasche, nahm einen Brief von der Kiste und steckte ihn
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